Neu im Kino/Filmkritik: Berliner Klänge, dokumentarisch aufbereitet: „Im Schatten der Träume“ und „Mutiny in Heaven – Nick Caves frühe Jahre“

Februar 7, 2025

Michael Jary, Bruno Balz und Nick Cave lebten in Berlin. Und während Cave allgemein bekannt ist (jedenfalls wenn man sich für Rockmusik interessiert), dürften die Namen Jary und Balz kaum jemand etwas sagen. Dabei komponierten sie unzählige Schlager, die von einem Millionenpublikum gehört wurden. Gassenhauer eben. Aber die Namen der Texter und Komponisten von Schlagern kennen nur die wenigen Menschen, die auch das Kleingedruckte auf der Plattenhülle oder der Schallplatte lesen. Dabei sind die Lieder von Komponist Michael Jary (24. September 1906, Laurahütte – 12. Juli 1988, München) und der offen homosexuelle Texter Bruno Balz (6. Oktober 1902, Berlin – 14. März 1988, Bad Wiessee) heute immer noch bekannt. Teils durch die Interpretationen von Zarah Leander, für die sie mehrere Lieder schrieben. Zu ihren gemeinsamen Werken gehören „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“, „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“, „Davon geht die Welt nicht unter“, „Das machen nur die Beine von Dolores“ und „Wir wollen niemals auseinandergehn“. Ihre Lieder sind in ungefähr 250 Kinofilmen zu hören.

Ihre Karriere begann, getrennt voneinander, in den zwanziger Jahren. Ab 1937 arbeiteten sie zusammen. In Berlin bezogen sie in der Fasanenstraße 60 zwei Wohnungen. So konnten sie einfacher zu jeder Tages- und Nachtzeit zusammen arbeiten. In den sechziger Jahren endete ihre jahrzehntelange Zusammenarbeit. Sie wandten sich auch vom musikalisch zunehmend uninteressantester werdendem Schlagergeschäft ab.

In seinem Dokumentarfilm „Im Schatten der Träume“ lässt Martin Witz das Leben von Komponist Michael Jary und Texter Bruno Balz Revue passieren in einer konventionellen Mischung aus sprechenden Köpfen (u. a. unser allerliebster Unterhaltungsmusiksänger Götz Alsmann und Rainer Rother, langjähriger kundiger Leiter der Kinemathek des Deutschen Historischen Museums [Berlin]), historischen Aufnahmen und Film- und Konzertausschnitten, in denen verschiedene Künstler ihre Lieder singen. Dabei entsteht auch ein Bild von Deutschland während der Weimarer Repulik, als Jary und Balz ihre Karriere begannen, dem Nationalsozialismus, als sie erfolgreich Lieder für UFA-Filme komponierten, und dem Wirtschaftswunder-Deutschland, als sie immer noch erfolgreich waren.

Insgesamt bleibt der Film deskriptiv an der Oberfläche und er ist überschaubar informativ, aber die alten Lieder funktionieren noch immer. Und deshalb gefällt der dann doch ziemlich kurzweilige Film.

Als Nick Cave und seine damalige Band „The Birthday Party“ 1982 nach Berlin kamen, lebten Jary und Balz noch und ein imaginiertes Treffen zwischen ihnen wäre sicher interessant geworden. Aber wahrscheinlich hätten sie sich nichts zu sagen gehabt. Während die Schlagerkomponisten Jary und Balz ihr Publikum nach einem anstrengenden Arbeitstag mit leichten Melodien erfreuen wollten, waren damals die Konzerte der „Birthday Party“ Nahkämpfe zwischen Publikum und Band und die Musiker waren wütend wütend wütend.

In seinem Dokumentarfilm „Mutiny in Heaven – Nick Caves frühe Jahre“ zeichnet Ian White die Geschichte von „The Birthday Party“ nach. Die kurzlebige und inzwischen legendäre Band ging aus der Punk/Wave-Band „The Boys next Door“ hervor. Als Nick Cave (voc), Mick Harvey (git, key, sax), Phill Calvert (dr), Tracy Pew (b) und Rowland S. Howard (git) 1980 von Melbourne (Australien) nach London umzogen und die LP „The Birthday Party“ veröffentlichten, änderten sie auch ihren Namen und ihren Stil. Fortan spielten sie lauten, aggressiven, kakophonischen Post-Punk/Noise-Rock. Die Kritik lobte den Krach, aber der große finanzielle Erfolg blieb aus. 1983 lösten sie sich auf. Nick Cave gründete die Bad Seeds.

Ian White montiert in seinem Dokumentarfilm über die Band Fotos, andere Dokumente aus der Bandgeschichte, viele bislang unbekannte Konzertmitschnitte und eigens für den Film erstellte animierte Sequenzen dicht und schnell aneinander. Die Menge der dokumentarischen Aufnahmen, die Ian White gefunden hat, ist beeindruckend. Die Bildqualität der Amateueraufnahmen oft historisch. Die Animationen basieren auf Originalzeichnungen von Reinhard Kleist. Von ihm sind auch die hochgelobten Comics „Nick Cave – Mercy on me“, „Nick Cave and The Bad Seeds: Ein Artbook“ und „Starman – David Bowie’s Ziggy Stardust Years“. Bei seiner durchdachten Montage des Materials arbeitet White mit Bildfehlern und akustischen und optischen Störungen. Die so entstandene Punk-Noise-DIY-Collage fordert Augen und Ohren heraus.

Darüber legt er die Stimmen der Bandmitglieder, die auf ihre Zeit in „The Birthday Party“ zurückblicken. Wie Asif Kapadia in seiner Amy-Winehouse-Doku „Amy“ verzichtet White so, obwohl er es doch ein-, zweimal tut, auf die in Dokumentarfilmen übliche Abfolge sprechender Köpfe. Allerdings können die einzelnen Sprecher nicht immer eindeutig identifiziert werden. Und natürlich ist ein solches Vorgehen nicht im Ansatz kritisch oder analytisch. Es ist Oral History und schwelgen in Erinnerungen.

Mutiny in Heaven – Nick Caves frühe Jahre“ ist ein Film für die Fans von Nick Cave, die mehr über die teuflisch wütenden Anfäge des zunehmend pastoralen Sängers wissen wollen, und für Musikfans die mehr über eine legendäre Noise-Band und die frühen achtziger Jahre erfahren wollen. Alle anderen sollten einen großen Bogen um dieses Werk machen.

Im Schatten der Träume (Schweiz/Deutschland 2024)

Regie: Martin Witz

Drehbuch: Martin Witz

mit Götz Alsmann, Manfred Herzer, Micaela Jary, Claudio Maniscalco, Rainer Rother, Klaudia Wick, Bibi Johns, Carol Schuler

Länge: 94 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Im Schatten der Träume“

Moviepilot über „Im Schatten der Träume“

Wikipedia über „Im Schatten der Träume“, Michael Jary (deutsch, englisch) und Bruno Balz (deutsch, englisch)

Mutiny in Heaven – Nick Caves frühe Jahre (Mutiny in Heaven: The Birthday Party, Australlien 2023)

Regie: Ian White

Drehbuch: Ian White

mit Nick Cave, Rowland S. Howard, Mick Harvey, Tracy Pew, Phill Calvert

Länge: 98 Minuten

FSK: ?

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Movieportal über „Mutiny in Heaven“

Metacritic über „Mutiny in Heaven“

Rotten Tomatoes über „Mutiny in Heaven“

Wikipedia über „The Birthday Pary“ (deutsch, englisch) und Nick Cave (deutsch, englisch)

AllMusik über „The Birthday Party“ und Nick Cave


Neu im Kino/Filmkritik: PJ Harvey ruft „A Dog called Money“

November 15, 2019

Zwischen 2012 und 2014 bereiste die Musikerin PJ Harvey den Kosovo, Afghanistan und Washington, DC.

2016 veröffentlichte sie ihre CD „The Hope Six Demolition Project“. Die Lieder waren von ihren Reisbeobachtungen inspiriert.

Und dieses Jahr veröffentlichte Seamus Murphy den Film „PJ Harvey – A Dog called Money“, das diese Reisen und die Aufnahmen für die CD nachzeichnet.

Allerdings nicht als Dokumentarfilm, sondern als filmisches Essay. Er zeigt, wie PJ Harvey durch die verschiedenen Kriegsgebiete geht, sich Notizen macht, sich manchmal mit Einheimischen unterhält und Musikinstrumente ausprobiert. Über diese Bilder legt er von PJ Harvey geschriebene und gesprochene Texte.

Später beobachtet er sie und ihre namenlos im Hintergrund agierende Band bei den Proben und Aufnahmen für die CD. Sie mieteten sich im Somerset House in London ein und errichteten für die Aufnahmen vom 14. Januar bis zum 14. Februar 2015 ein ‚Recording in Progress‘-Studio. Das Studio war ein abgeschlossener, durch Einwegspiegelglas einsehbarer Raum, in dem die Musiker die Songs für die CD erarbeiteten und einspielten. Fans konnten diese öffentlichen Proben beobachten.

Murphys Film springt dabei zwischen beiden Zeitebenen hin und her und immer steht die Musikerin im Mittelpunkt.

Entstanden ist eine PJ-Harvey-Collage für die Fans der Musikerin, die nicht genug von ihr bekommen können.

Wer allerdings mehr wissen möchte, wird mit der Personality-Show „PJ Harvey – A Dog called Money“ wenig anfangen können. Es gibt keine Interviews mit ihren Musikern oder mit ihr. Es gibt auch keine Gespräche mit den Einheimischen. Sie bleiben, auch wenn es von PJ Harvey so wohl nicht intendiert ist, die Staffage für die Inszenierung einer Musikerin, die fremde Länder besucht und aus diesen Ländern Dinge mitnimmt, die ihr gefallen und die sie in ihre Musik integriert. Allerdings so, dass sie ihrer Musik einfach eine neue Klangfarbe beifügen.

Seamus Murphy hat für PJ Harveys Alben „Let England Shake“ und „The Hope Six Demolition Project“ mehrere Kurzfilme inszeniert.

PJ Harvey – A Dog called Money (A Dog called Money, Irland/Großbritannien 2019)

Regie: Seamus Murphy

Drehbuch: Seamus Murphy

mit PJ Harvey (aka Polly Jean Harvey), John Parish, Terry Edwards, Kenrick Rowe, Enrico Gabrielli, Mike Smith, Alessandro Stefana, James Johnston, Alain Johannes, Adam ‚Cecil‘ Bartlett, Flood, Jean-Marc Butty, Mick Harvey, Linton Kwesi Johnson

Länge: 94 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „A Dog called Money“

Metacritic über „A Dog called Money“

Rotten Tomatoes über „A Dog called Money“

Wikipedia über PJ Harvey (deutsch, englisch)

Homepage von PJ Harvey

AllMusic über PJ Harvey