Philip Kerr serviert Bernie Gunther einmal „Kalter Frieden“

Juni 29, 2018

Beginnen wir mit der für Philip-Kerr- und Bernie-Gunther-Fans erfreulichen Nachricht: „Kalter Frieden“ ist nicht der letzte Roman des am 23. März 2018 überraschend verstorbenen Kerr. In seiner Heimat sind bereits zwei weitere Gunther Romane erschienen und für nächstes Jahr ist ein weiterer Gunther-Roman, den Kerr vor seinem Tod vollendete, angekündigt.

Das sage ich, weil „Kalter Frieden“ der schlechteste Roman ist, den ich bis jetzt von Philip Kerr gelesen habe.

1956 arbeitet Gunther als Concierge in einem Grandhotel an der Französischen Riviera. Es ist ein ruhiges Leben, bis er einen der Hotelgäste wieder erkennt. Es ist Harold Hennig, ein Untergebener von Gauleiter Erich Koch und Hauptmann beim SD, dem Geheimdienst der SS.

Hennig verwickelt ihn dann auch in eine arg seltsam aufgebaute Erpressergeschichte. Hennig erpresst W. Somerset Maugham mit eindeutig zweideutigen Fotos, die heute noch nicht einmal eine Boulevardzeitung interessieren würden. Damals hätten sie, in den falschen Händen, zu veritablen Skandalen führen können. Hennig schlägt Maugham Gunther als vertrauenswürdigen Vermittler, Kurier und Abwickler der von ihm initiierten Erpressung vor.

Maugham trifft sich mit Gunther und nachdem er ihm erklärt, dass er Hennig hasse, vertraut der Schriftsteller Gunther. Er geht auf Hennigs Vorschlag ein, Gunther als unabhängigen Vermittler zwischen ihnen zu akzeptierten. Und Gunther versucht Maugham zu helfen.

Zur gleichen Zeit bittet die Engländerin Anne French Gunther darum, ihr einen Kontakt zu Maugham zu vermitteln. Sie möchte nämlich eine Biographie über den Schriftsteller schreiben. Gunther will auch ihr helfen.

Und dann geschehen noch einige Ereignisse, die auch in einem Eric-Ambler-Roman gut aufgehoben wären, während wir viel über den englischen Geheimdienst erfahren. Vor allem über die zum Handlungszeitpunkt des Romans noch unbekannten, inzwischen seit Jahrzehnten allseits bekannten, legendären und vielfach in Buch und Film verarbeiteten Geschichte der Cambridge Five, der Gruppe hochrangiger britischer Geheimdienstler, wie Kim Philby, die auch für den KGB arbeiteten.

Dieser 1956 spielende Teil des Romans wird ergänzt durch viele Seiten füllende, aber nicht besonders inhaltsreiche Rückblenden in die Nazi-Zeit. Gunther erzählt Maugham, warum er Hennig abgrundtief hasst. Die längste Rückblende umfasst, mit kurzen Unterbrechungen, über sechzig Seiten, in denen Gunther Maugham erzählt, wie er sich in Königsberg in eine Frau verliebte, wieder Hennig traf und sie auf der Wilhelm Gustloff mitfuhr. Diese Ereignisse haben mit der aktuellen Geschichte nichts zu tun und die einzige für die Handlung wichtige Information dieser Rückblende ist, ist dass Gunther Henning für den Tod seiner Freundin verantwortlich macht.

Später gibt es, wenn Tonbänder abgehört werden, ähnliche Momente, in denen die Handlung zum Stillstand kommt, weil in epischer Länge Dinge ausgebreitet werden, die für die Haupthandlung egal sind. Es ist höchstens eine mäßig interessante Geschichtsstunde.

Was letztendlich auch auf den gesamten Roman „Kalter Frieden“ des sonst zuverlässigen Philip Kerr zutrifft.

Philip Kerr: Kalter Frieden

(übersetzt von Axel Merz)

Wunderlich, 2018

400 Seiten

22,95 Euro

Originalausgabe

The other Side of Silence

Penguin Random House, New York, 2016

Bonushinweis 1

Schon seit einigen Monaten gibt es Bernie Gunthers vorheriges Abenteuer als Taschenbuch. Kerrs zehnter Gunther-Roman „Operation Zagreb“ spielt im Sommer 1942. Bernie soll, auf Befehl von Propagandaminister Goebbels, den Vater von Goebbels‘ Lieblingsschauspielerin finden. Der hat sich den rechtsextremen Ustascha angeschlossen. Und dann verschwindet die Schauspielerin.

Philip Kerr: Operation Zagreb

(übersetzt von Axel Merz)

rororo, 2018

512 Seiten

10,99 Euro

Deutsche Erstausgabe

Wunderlich, 2017

Originalausgabe

The Lady from Zagreb

Quercus, London, 2015

Bonushinweis 2

Für alle, die während der Fußball-WM zwischen den Spielen und den abertausenden WM-Berichten ein gutes Buch, das irgendetwas mit Fußball zu tun hat, lesen wollen, sollten sich die drei von Philip Kerr geschriebenen Fußballkrimis mit Scott Manson, Fußballtrainer und Amateurdetektiv, besorgen. Sie bieten Fußballfans genug Klatsch und Tratsch aus der Welt des Fußballs für mehrere Abende.

Für die Fußballverächter gibt es einen spannenden Rätselplot und viel schwarzen Humor.

Die ersten beiden Scott-Manson-Krimis „Der Wintertransfer“ und „Die Hand Gottes“ habe ich ja schon abgefeiert. Im dritten Manson-Krimi „Die falsche Neun“ soll der Fußballtrainer und Amateurdetektiv Scott Manson für den FC Barcelona deren spurlos verschwundenen Stürmer Jérôme Dumas finden. Irgendwo zwischen Paris und der Karibik.

Philip Kerr: Die falsche Neun

(übersetzt von Hannes Meyer und Simone Jakob)

Tropen, 2016

368 Seiten

14,95 Euro

Originalausgabe

False Nine

Head of Zeus, London, 2015

Die Taschenbuchausgabe ist bei Tropen für den 22. September angekündigt. Sie kostet 9,95 Euro.

Hinweise

Homepage von Philip Kerr

Krimi-Couch über Philip Kerr

Wikipedia über Philip Kerr (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Philip Kerrs „Der Wintertransfer“ (January Window, 2014)

Meine Besprechung von Philip Kerrs „Die Hand Gottes“ (Hand of God, 2015)


Cover der Woche

März 7, 2017

Mit Hinweisen auf zwei brandneue Schandtaten von Herr Kerr:

einmal schickt er Bernie Gunther wieder los. Im Sommer 1942 muss er sich mit der „Operation Zagreb“ (Wunderlich, 22,95 Euro) beschäftigen.

ein anderes Mal darf Trainer und Hobbyprivatdetektiv wider Willen Scott Manson einen verschwundenen Fußballer suchen und er trifft Die falsche Neuen“ (Tropen, 14,95 Euro).

Prognose: klingt nach ein, zwei schlaflosen Nächten.

 


„Die Hand Gottes“, ein toter Fußballer, eine tote Prostituierte und Scott Manson ist wieder auf Mördersuche

Juli 6, 2016

Scott Manson ist zurück und mit ihm der spannende Fußballkrimi, der auch Nicht-Fußball-Fans gefällt. Dieses Mal muss der Cheftrainer von London City den Mord an Bekim Develi aufklären. Der Stürmer brach während eines Champions-League-Spiels auf dem Spielfeld zusammen. Bis zur Obduktion dauert es, streikbedingt, allerdings noch einige Tage, in denen Scott Manson und seine Mannschaft in Griechenland festsitzen. Denn auch wenn Bekim einen Herzanfall gehabt haben könnte, wurde kurz nach dem Spiel im Wasser der Marina Zea in der Nähe von Piräus die Leiche einer unbekannten Schönheit gefunden, die den Stürmer am Abend vor dem Spiel in der abgeschiedenen Hotelanlage besuchte. Und dass sie ermordet wurde, daran zweifelt Chefinspektor Varouxis nicht. Ihr Mörder könnte ein Mitglied aus Scotts Mannschaft sein.

Deshalb darf Scott Manson wieder seine detektivischen Fähigkeiten einsetzen.

Dieses Mal in einem Land, in dem alles an die Dritte Welt (oder noch schlimmere Gegenden) erinnert, Fußballfans eine pöbelnde Horde sind, die im Stadion einen Bürgerkrieg inszenieren und die aus London kommende Fußballmannschaft (deren Spieler von dem ukrainischen Besitzer aus der halben Welt zusammengekauft wurden), trotz einiger interner Probleme (wie Homophobie, Rassismus, pubertärem Testosterongehabe, Aberglaube und religiösem Fanatismus), wie ein Hort der Anständigkeit wirkt.

Jedenfalls wenn man „Die Hand Gottes“ kurz nach dem Brexit-Referendum liest und die teils abstrusen Äußerungen von hochrangigen britischen Politikern über den Brexit, die glorreiche Zukunft des Landes und die Verhandlungen mit der Europäischen Union die Lektüre begleiten.

Vor diesen realen Ereignissen bekommen die zahlreichen abfälligen Bemerkungen der verschiedenen Charaktere und auch teilweise des Ich-Erzählers Scott Mason über die gegnerische Mannschaft, die Griechen und Griechenland einen unangenehm imperialistisch-chauvinistischen Beigeschmack. Die Lästereien der Engländer im Roman sind dann nicht mehr nur harmlose Lästereien und Aufputschreden an die Mannschaft, sondern mentale Überbleibsel einer Kolonialmacht, die immer noch an die Größe ihres schon lange vergangenen Reiches glaubt.

Ohne den Brexit – zu dem ich keine Äußerung von Philip Kerr fand, aber als Schotte war er 2014 bei dem Schottland-Referendum gegen die Unabhängigkeit Schottlands – als aktuellen und vom Autor nicht und nie geplantem Subtext seines im Original 2015 erschienenen Romans ist „Die Hand Gottes“ ein würdiger Nachfolger für „Der Wintertransfer“, der zu den wenigen, sehr wenigen gelungenen Fußballkrimis gehört. Der Mord, der Täter und die Lösung sind untrennbar mit der Welt des Fußballs verbunden und Philip Kerr wirft mit Informationen darüber um sich; dieses Mal vor allem über die ökonomischen Hintergründe der zahllosen Spielertransfers.

Scott Mason, der ja eigentlich ein Fußballtrainer ist, macht als Amateurdetektiv wieder eine gute Figur. Auch dank seines gut gefüllten Geldbeutels gestaltet sich seine Ermittlung hier so professionell, dass man schon glaubt, er strebe eine Karriere als Privatdetektiv an.

Die Hand Gottes“ ist ein gut konstruierter Rätselkrimi mit einer überschaubaren Zahl Verdächtiger, bei dem der schwarzhumorig-lakonische Hardboiled-Tonfall und die gut in die Handlung eingewobenen, satirisch überspitzten Informationen über Fußball und Griechenland gefallen.

Ende Oktober erscheint „Die falsche Neun“, der dritte Scott-Mason-Roman. Dann sucht er einen verschwundenen Fußballspieler.

Im November besucht Philip Kerr Österreich und Deutschland.

Kerr - Die Hand Gottes - 2

Philip Kerr: Die Hand Gottes

(übersetzt von Hannes Meyer)

Tropen, 2016

400 Seiten

14,95 Euro

Originalausgabe

Hand of God

Head of Zeus, London, 2015

Hinweise
Homepage von Philip Kerr
Krimi-Couch über Philip Kerr
Wikipedia über Philip Kerr (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Philip Kerrs „Der Wintertransfer“ (January Window, 2014)


Philip Kerr, viel Fußball, ein Mord und „Der Wintertransfer“

September 16, 2015

Kerr - Der Wintertransfer - 2

Sogar mir als Mitglied der Fußball-ist-mir-egal-Fraktion (außer natürlich wenn es um Bürgerrechte, Polizeirepression, Gewalt und Korruption geht) fällt auf, dass Fußball einerseits ein Milliardengeschäft ist, andererseits aber kaum Romane über Fußball geschrieben werden. Dabei ist das Spiel und sein Umfeld doch ein ideales Biotop für spannende Geschichten.
Jetzt hat Philip Kerr mit „Der Wintertransfer“ eine im Fußballmilieu spielende Detektivgeschichte geschrieben. Scott Manson ist Co-Trainer beim Premier-League-Verein London City, der inzwischen dem ukrainischen Milliardär Viktor Jewegenowitsch Sokolnikow gehört. Nach Medienberichten ist er ein Oligarch mit mehr als guten Kontakten zum Organisierten Verbrechen, weshalb das mitten auf dem Spielfeld des Vereins ausgehobene Grab auch als ein Signal an Sokolnikow, von Russenmafiosi an Russenmafiosi, verstanden wird. Auch wenn es als Warnung arg theatralisch daherkommt und in dem Grab ein Bild von Joao Zarco, dem Trainer des Vereins liegt. Zarco ist in der Öffentlichkeit vor allem als kein Blatt vor den Mund nehmende Choleriker bekannt. Aber er ist auch ein guter Trainer und ein Freund von Manson.
Kurz darauf ist er tot. Er wurde in einem abgelegenen Raum des Stadions zu Tode geprügelt. Täter und Motiv sind vollkommen unklar.
Sokolnikow bittet Manson, den Mörder zu suchen. Denn in so einem Fußballverein gibt es viele Geschichten, von denen die Polizei und die Öffentlichkeit (via einem Informanten bei der Polizei) nichts erfahren muss.
Außerdem ist gerade der titelgebende Wintertransfer, eine Zeit von wenigen Wochen, in denen Vereine wie blöde Spieler kaufen und verkaufen. Da würde negative Presse sich negativ auf die Verkaufspreise auswirken.
Die meisten werden Philip Kerr über seine Bernie-Gunther-Romane, die sogenannte „Berlin Trilogie“ (oder „Berlin Noir“), die zwischen 1989 und 1991 erschien, kennen gelernt haben. Nach einer fünfzehnjährigen Pause schreibt Kerr inzwischen wieder regelmäßig neue Gunther-Romane die während und nach der Hitler-Diktatur spielen und die, als Hardcover bei Wunderlich (zuletzt „Wolfshunger“) und als Taschenbuch bei rororo (dort erscheint die Taschenbuch-Ausgabe von „Wolfshunger“ Ende November) erscheinen. Ich lernte Kerr über seine ab 1992 erschienenen Einzelromane, wie „Das Wittgenstein-Programm“, „Game Over“ und „Esau“, kennen. Es sind gut recherchierte Thriller, in denen Kerr Fakten und Fiktion gekonnt miteinander verbindet und von Buch zu Buch, manchmal auch in Richtung Science-Fiction gehend, zwischen den verschiedenen Thriller-Subgenres wechselt.
Das gilt auch für „Der Wintertransfer“, der von seiner Struktur her ein klassischer, gut konstruierter Rätselkrimi ist, bei dem die Spuren und falschen Spuren gut gelegt sind.
Dazu kommen viele Informationen über Fußball, die oft monologisierend präsentiert werden. Manchmal weil ein Trainer oder eine andere wichtige Person gerade eine Ansprache hält oder jemand anderes, beispielweise einer nicht-fußballbegeisterten Polizistin, etwas erklären will. Das hat oft die Qualität eines Zeitungskommentars, der sich vor allem an den Leser, mal als Fußballfan, mal als Nicht-Fußballfan, richtet und so in der Realität oft nicht gesprochen würde.
Über diese Fußballfakten und Spielbeschreibungen (so gibt es kurz vor der Auflösung ein in jeder Phase detailliert beschriebenes Spiel gegen West Ham, das Manson, abgesehen von einem Blick auf die Gästeliste, nicht einen Schritt näher an die Lösung, aber seine Mannschaft vielleicht näher an den Ligapokal bringt) gerät dann der Rätselplot immer wieder in den Hintergrund. Aber so habe ich genug über Fußball erfahren, um bei den nächsten Gesprächen mit Hintergrundwissen zu punkten.
Und Kerr, selbst ein bekennder Fan, hat Gefallen an Manson und dem Fußballmilieu gefunden. In England sind bereits zwei weitere Manson-Romane erschienen.

Philip Kerr: Der Wintertransfer
(übersetzt von Axel Merz)
Tropen, 2015
432 Seiten
14,95 Euro

Originalausgabe
January Window
Head of Zeus, London, 2014

Hinweise
Homepage von Philip Kerr
Krimi-Couch über Philip Kerr (nicht so aktuell)
Wikipedia über Philip Kerr (deutsch, englisch)