Drehbuch: Will Merrick, Nick Johnson (basierend auf einer Geschichte von Sev Ohanian und Aneesh Chaganty)
Via Computer sucht die 18-jährige June von Los Angeles aus ihre während eines Wochenendtrips in Cartagena, Kolumbien, mit ihrem neuen Freund spurlos verschwundene Mutter.
TV-Premiere zu einer unmöglichen Uhrzeit (nach dem aktuellen Sportstudio [wie jeden Samstagabend] und zwei bereits mehrfach gezeigten Thrillern). Denn dieser Desktop-Thriller ist ziemlich gelungen.
„Missing“ ist ein überaus spannender, wendungsreicher und entsprechend kurzweiliger Spaß für den immer nach spannender Unterhaltung süchtigen Thrillerfan.
Die achtzehnjährige June (Storm Reid) findet den neuen Freund ihrer Mutter zwar etwas doof und übertrieben freundlich. Aber dass Kevin (Ken Leung) mit ihrer Mutter Grace (Nia Long) für ein verlängertes Wochenende nach Cartagena, Kolumbien, fliegt, ist ziemlich cool. Denn an den Tagen hat sie in Los Angeles eine sturmfreie Bude, die sie für genau das benutzt, was sie nach Ansicht ihrer überfürsorglichen Mutter nicht tun soll. Nämlich Party, Alkohol, Drogen und wohl auch Sex (hey, es ist ein US-Krimi, da werden bestimmte Dinge nicht gezeigt.).
Aber dann kehren Grace und Kevin nicht aus dem Urlaub zurück und sie reagiert nicht auf Junes Anrufe. Sie ist, wie June, herausfindet, spurlos verschwunden und die Polizei strengt sich nicht sonderlich an, sie zu finden. Immerhin deutet nichts auf ein Verbrechen hin.
Also beginnt June auf eigene Faust zu recherchieren. Und das tut sie an ihrem Computer.
„Missing“ ist ein Desktop-Thriller. D. h. die gesamte Filmhandlung spielt sich auf einem Computerbildschirm ab. Es gibt Recherchen in Datenbanken, Besuche auf verschiedenen Webseiten und in den sozialen Medien, Videotelefonate, verschiedene Textnachrichten und den Zugriff auf verschiedene Videokameras. Viele davon sind öffentlich zugänglich, weil es sich um Kameras handelt, die auf Sehenswürdigkeiten und Marktplätze gerichtet sind. Andere, wie die Kamera an ihrem Hauseingang, nicht. Und im Lauf ihrer Suche kann sie sich auch von Privatpersonen erstellte Videoaufnahmen ansehen. Das alles hilft ihr bei der Suche nach ihrer Mutter.
Die Macher von „Missing“ sind auch für den 2018er Desktop-Thriller „Searching“ verantwortlich. Ihr neuer Film spielt in der gleichen Welt und sie wollen in den nächsten Jahren weitere in dieser Welt spielende Thriller drehen. Im Moment ist diese Verbindung noch sehr lose. Denn bis auf ein, zwei Easter-Egg-Bilder auf Junes Computer gibt es keine weitere offensichtliche Verbindung zwischen den beiden Thrillern.
Inszeniert wurde „Missing“ von Will Merrick und Nick Johnson. Sie waren bei „Searching“ für den gelungenen Schnitt verantwortlich und bei dieser Art von Filmen ist das mehr als die halbe Miete.
Denn wie die Macher hier die Geschichte erzählen und den Blick über den Computerbildschirm lenken, ist überaus durchdacht. Niemals verliert man auf Junes Bildschirm mit den zahlreichen geöffneten und parallel laufenden Programmen und Apps, zwischen denen sie teilweise mit atemberaubender Geschwindigkeit hin und her wechselt, den Überblick. Die große Kinoleinwand erleichtert das Lesen der verschiedenen Texte. Denn auf einem kleinen Laptop oder einem Smartphone ist dann nur noch wenig bis nichts mehr von den vielen gleichzeitg gezeigten Bildern und Texten zu sehen.
Erschreckend ist bei allen kreativen Freiheiten, die die Macher sich sicher genommen haben (vor allem ist Junes Computer immer schnell und frei von lästiger Werbung), wie viel June ziemlich mühelos über öffentlich zugängliche Seiten herausfinden kann und wie schnell sie an bestimmte Informationen herankommt, ohne dabei die passwortgesicherten Konten ihrer Mutter und ihres Freundes zu öffnen (das tut sie auch) und ohne ihr Zimmer zu verlassen.
Auch wenn June viel am Computer herausfinden kann, kann sie nicht alles herausfinden. Für die immer noch notwendige Fußarbeit vor Ort in Cartagena engagiert sie Javi (Joaquim de Almeida). Er bietet auf TaskRabbit seine Dienste für kurzfristige Arbeiten an und seine Honorarvorstellungen sind für June akzeptabel. Er ist selbst Vater, versteht Junes Sorgen gut und wird zu einer für sie unersetzlichen Hilfe.
Die Story ist, wenn wir die glänzende technische Oberfläche weg lassen, eine klassische Pulp-Geschichte mit etlichen Überraschungen. Im Nachhinein erscheint nicht mehr jeder Twist besonders logisch, aber das hohe Erzähltempo täuscht darüber hinweg. Denn natürlich ist nichts so, wie es scheint und June erfährt über den neuen Freund ihrer Mutter, ihre Mutter, ihren Vater und damit über ihre Vergangenheit mehr, als sie wissen möchte.
Es ist eine Geschichte, wie wir sie von Harlan Coben kennen.
Sie würde auch gut in das Programm von Hard Case Crime passen. HCC ist eine in den USA erscheinende Krimireihe, die seit einigen Jahren die Tradition des gepflegten Pulps hochhält und deshalb von Krimifans geliebt wird. Ab und an wird ein HCC-Buch ins Deutsche übersetzt. So erscheint bei Suhrkamp am 11. März 2023 James Kestrels mit dem Edgar-Award 2022 ausgezeichneter, bei HCC veröffentlichter Thriller „Fünf Winter“ (Five Decembers). Aber das ist eine Geschichte, die nichts, aber auch absolut nichts mit „Missing“ zu tun hat.
„Missing“ ist ein überaus spannender, wendungsreicher und entsprechend kurzweiliger Spaß für den immer nach spannender Unterhaltung süchtigen Thrillerfan. .
Missing (Missing, USA 2023)
Regie: Will Merrick, Nick Johnson
Drehbuch: Will Merrick, Nick Johnson (basierend auf einer Geschichte von Sev Ohanian und Aneesh Chaganty)
mit Storm Reid, Joaquim de Almeida, Ken Leung, Amy Landecker, Daniel Henney, Nia Long
Wir verbringen immer mehr Zeit vor dem Computerbildschirm. Schon lange weiß der Computer mehr über uns, als wir selbst. Seine Erinnerung trügt nicht. Vergessen tut er ebenfalls nichts. Und er ist, solange wir nicht zum Einkaufen vor die Tür müssen (wobei es ja auch Lieferdienste gibt), unser Tor zur Welt. Oder zu einer anderen Person. Zum Beispiel der eigenen, spurlos verschwundenen Tochter.
37 Stunden nach dem spurlosen Verschwinden seiner sechzehnjährigen Tochter Margot (Michelle La) loggt ihr Vater David Kim (John Cho) sich in den Computer seiner Tochter ein. Er hofft so, zu erfahren, warum sie verschwunden ist. Und wo sie ist.
Als erstes entdeckt er allerdings einige Dinge, die er nicht über Margot wusste. Dabei hat er geglaubt, dass sie ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis haben.
Schnell entdecken er und die in dem Vermisstenfall ermittelnde Polizistin Rosemary Vick (Debra Messing), dass Margot nicht ganz freiwillig verschwunden ist.
Regisseur Aneesh Chaganty erzählt, nach mehreren Kurzfilmen, in seinem Spielfilmdebüt „Searching“ die Geschichte von David Kim und der Suche nach seiner Tochter ausschließlich über den Computer. Es ist ein Bildschirmfilm, der zeigt, was formal bei einem Desktop-Film möglich ist. Auch wenn einige Gespräche, die sich auf Margots Computer befinden, wahrscheinlich niemals aufgenommen würden und Verhörvideos, die während Vicks Ermittlungen entstehen, niemals auf Margots oder, in dem Moment, Kims Computer gelangen. Außerdem müssen alle wichtigen Erzählschritte so erzählt werden, dass sie entweder am Computerbildschirm geschehen oder es, zum Beispiel, Nachrichtenbilder gibt, die uns diese für das Verständnis der Geschichte wichtigen Informationen vermitteln. Das gelingt Chaganty und seinem Co-Drehbuchautor Sev Ohanian.
Der Kriminalfall und seine Auflösung sind allerdings immer wieder nicht nicht logisch und in Teilen, vor allem mit zunehmender Laufzeit, auch nicht plausibel. So gibt es, zum Beispiel, keinen Grund, weshalb Kim an die Verhörvideos kommt.
In einem normalen Thriller würde man deshalb die Geschichte lustvoll in der Luft zerreißen. Aber hier ist sie nur die erzählerische Krücke, um zu zeigen, wie ein spannender Desktop-Film aussehen kann.
Denn „Searching“ zeigt exemplarisch die Möglichkeiten und auch Grenzen eines Desktop-Films. Nie fühlt man sich als Zuschauer eingeengt durch den Bildschirm. Die Kamera gleitet sehr flexibel über den Bildschirm und lenkt damit den Blick auf die wichtigen Informationen, die aus verschiedenen Quellen kommen. Es gibt Chats und direkte FaceTime-Gespräche. Der Cursor und die Tastenanschläge, beim Schreiben von Texten, visualisieren, was Kim denkt und fühlt. Falls man ihn nicht gerade auf dem Computerbildschirm sieht.
Wie es Chaganty gelingt, das zu erzählen, macht seinen Film unbedingt sehenswert. Auch um zu sehen, wie die Ideen von Chaganty künftig fortgeführt werden. Dann allerdings wohl eher und besser als mehr oder weniger umfangreichen Teil eines Films. Denn, in der Beziehung ist „Searching“ wie andere Kunstprojekte, in denen das Konzept an erster Steller steht und Dinge in diesem Rahmen ausprobiert und bis an ihre Grenzen gebracht wurden: wenn man die Grenzen ausprobiert hat, sind sie bekannt. Danach fehlt der Überraschungseffekt. Es kann immer noch ein guter Film entstehen, aber es wird ein Film sei, über den es heißt: Das habe ich in „Searching“ besser gesehen.
Deshalb ist „Searching“ deutlich besser als „Unknown User“ (Unfriended, USA 2014), der erste Desktop-Film, der regulär in unseren Kinos lief. Der ebenfalls von Timur Bekmanbetov produzierte Film erzählt in Echtzeit eine 08/15-Horrorgeschichte voller Logiklöcher.
Searching (Searching, USA 2018)
Regie: Aneesh Chaganty
Drehbuch: Aneesh Chaganty, Sev Ohanian
mit John Cho, Debra Messing, Joseph Lee, Michelle La
Build Series unterhält sich (nach dem Prolog ab Minute 8:56) mit Aneesh Chaganty (Regie, Drehbuch), Sev Ohanian (Drehbuch) und John Cho (Hauptrolle) über den Film