Der Comic zum Song: „Sie wollen uns erzählen“: „Keine Macht für Niemand“!

Juni 10, 2024

Die Idee ist sicher etwas gaga, aber sie funktiniert: Comickünstler werden gebeten, Bildergeschichten zu Songs zu schreiben. Nach dem Konzept sind im Ventil Verlag bereits mehrere Bücher erschienen, unter anderem „Keine Macht für Niemand – Ein Ton Stiene Scherben Songcomic“ und „Sie wollen uns erzählen – Zehn Tocotronic-Songcomics“.

Ton Steine Scherben lieferte in den siebziger Jahren, vor allem mit ihren ersten LPs den Soundtrack zur Revolte. Einige ihrer Songs erklingen immer noch auf Demonstrationen und Kundgebungen. Dank ihrer ziemlich frühen Auflösung und dem Tod von ihrem Sänger und Hauptsongschreiber Rio Reiser 1996 verharren sie immer noch im Gestus jugendlicher Revolte. Ein „Ich will nicht werden was mein Alter ist“ ist immer noch ein Solitär. Die Weitererzählung „Ich bin was mein Alter ist“ wurde nie geschrieben.

Zwanzig Jahre später lieferte Tocotronic mit jugendlicher Larmoyanz, Schrammelgitarren und bildungsbürgerlichem Hintergrund den Soundtrack für die damalige Jugend. „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ und „Digital ist besser“ (auch wenn damals keine Smartphones gemeint waren) ertönten in jeder Indie-Disco. Fast dreißig Jahre nach ihrer 1995 erschienenen Debüt-CD machen sie als Band immer noch gute Musik.

In „Keine Macht für niemand“ haben die Kathrin Klinger, Nicolas Mahler, Bianca Schaalburg, Sheree Domingo/Rahel Suesskind, Reinhard Kleist, Mia Oberländer, Sascha Hommer, Daniela Heller, Jan Soeken, 18 Metzger, Ulli Lust und Michael Jordan die zweite LP von Ton Steine Scherben illustriert. Es handelt sich um „Wir müssen hier raus“, „Feierabend“, „Die letzte Schlacht gewinnen wir“, „Paul Panzer Blues“, „Menschenjäger“, „Allein machen sie dich ein“, „Schritt für Schritt ins Paradies“, „Der Traum ist aus“, „Mensch Maier“, „Rauch-Haus-Song“, „Keine Macht für Niemand“ und „Komm, schlaf bei mir“.

Bei dem Tocotronic-Songcomic dürften Jim Avignon, Sascha Hommer, Tine Fetz, Katja Klengel/Christopher Tauber, Eva Feuchter, Anna Haifisch, Julia Bernhard, Moni Port, Jan Schmelcher und Philip Waechter aus dem gesamten Werk der Band ihren Lieblingssong auswählen. Illustriert wurden „Digital ist besser“ (aus „Digital ist besser“, 1995), „Drüben auf dem Hügel“ (aus „Digital ist besser“, 1995), „Der schönste Tag in meinem Leben“ (aus „Es ist egal, aber“, 1997), „Let there be Rock“ (aus „K. O. O. K.“, 1999), „Aber hier leben, nein Danke“ (aus „Pure Vernunft darf niemals siegen“, 2005), „Kapitulation“ (aus „Kapitulation“, 2007), „Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools“ (aus „Wie wir Leben wollen“, 2013), „Die Erwachsenen“ (aus „Tocotronic“, 2015), „Rebel Boy“ (aus „Tocotronic“, 2015) und „Electric Guitar“ (aus „Die Unendlichkeit“, 2018), Als Zugabe und ohne einen Song zeichnet Tocotronic-Schlagzeuger Arne Zank biographisch „Tocotronic spielen sich selber“.

Beide Bücher sind gleich aufgebaut. Es gibt vor jedem Song eine kurzen Text eines Bandmitglieds (bei Ton Steine Scherben Nikel Pallat, Jörg Schlotterer, Rio Reiser, Kai Sichtermann, Angie Olbrich, Bernhard Ka und R. P. S. Lanrue, bei Tocotronic Dirk von Lowtzow) und des Zeichner. Während die Musiker etwas über die Entstehung des Liedes erzählen, erzählen die Zeichner, welche Bedeutung der ausgewählte Song für ihn hat und warum er ihn ausgewählt hat. Die verschiedenen Songcomics sind dann so vielfältig interpretiert zwischen reiner Illustration des Textes bis hin zu freier Bearbeitung, wie man es bei den Künstlern erwarten kann.

Sicher, die Comics richten sich primär an Fans der Band, die sich an der Interpretation erfreuen können, die danach die Songs wieder hören wollen und davor die Doppel-LP (bei Ton Steine Scherben) oder die CD (bei Tototronic) entstauben müssen. Danach können sie jede Zeile mitsingen und sich durch die Songcomic-Bücher blättern.

Gunther Buskies/Jonas Engelmann (Hrsg.): Keine Macht für Niemand – Ein Ton Steine Scherben Songcomic

Ventil Verlag, 2022

128 Seiten

25 Euro

Michael Büsselberg (Hrsg.): Sie wollen uns erzählen – Zehn Tocotronic-Songcomics

Ventil Verlag, 2020

128 Seiten

25 Euro

Hinweise

Ventil über den Ton-Steine-Scherben-Songcomic und den Tocotronic-Songcomic

Wikipedia über Ton Steine Scherben (deutsch, englisch), „Keine Macht für Niemand“ (deutsch, englisch) und Tocotronic (deutsch, englisch)


„Mme Choi & die Monster“ und die Entführung nach Nordkorea

Juni 21, 2023

Das ist jetzt eine dieser kleinen, obskuren Geschichten aus der Welt des Films, die heute noch unbekannter als damals sind. Es geht um eine Entführung, einen Diktator und einen Monsterfilm.

Kim Jong-il, der Sohn von Kim Il-sung, dem damaligen Herrscher von Nordkorea, war ein großer Filmfan. Seine Lieblingsfilme waren anscheinend „Rambo“ (First Blood), „Freitag, der 13.“ und die James-Bond-Filme. Solche Filme wollte er in seinem Land drehen. Den richtigen Regisseur und die richtige Hauptdarstellerin hatte er auch schon. Es gab nur ein Problem: Shin Sang-ok und Choi Eun-hee lebten in Südkorea. Dort war das Paar mit ihren selbst produzierten Filme erfolgreich. Der Höhepunkt ihrer Popularität war in den fünfziger und sechziger Jahren.

Doch wie konnte er sie überzeugen, in Nordkorea zu arbeiten?

Seine Idee war dann eine Idee, die nur einem Diktator einfallen konnte. Anstatt sie zu fragen, ob sie für ihn einen Film drehen möchten, ließ er 1978 die Schauspielerin Choi Eun-hee in Hongkong entführen. Als ihr Ex-Mann Shin Sang-ok sie suchte, wurde er ebenfalls entführt.

Die nächsten Jahre verbrachten sie getrennt und ohne voneinander zu wissen in verschieden komfortablen Gefängnissen, in denen sie von den Vorzügen des nordkoreanischen Gesellschaftsmodell und den edlen Taten des Führers überzeugt wurden. 1983 sahen sie sich wieder. Kim Jong-il eröffnete ihnen, warum er sie entführen ließ: Sie sollen für ihn „Meisterwerke von internationalem Format“ inszenieren.

Der bekannteste Film, den sie in Nordkorea drehten ist „Pulgasari“, ein 1985 entstandener Monsterfilm, der überdeutlich von den „Godzilla“-Filmen beeinflusst und zwar trashig unterhaltsam, aber beileibe kein Meisterwerk ist.

Er interpretiert den jahrhundertealten koreanischen Mythos von Pulgasari (bzw. Bulgasari) neu. Pulgasari ist ein Eisen fressendes Monster, das die Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Denn mit jeder Eisenmahlzeit wird er größer und hungriger. Im Film und im Comic wird er von Mina mit einem Tropfen ihres Blutes zum Leben erweckt. Sie ist die Tochter eines vom König entführten Schmieds. Dieser despotische König unterdrückt seine Untertanen, führt Kriege und zerstört beim Abbau von Eisenerz die Natur. Zum Herstellen von Schwertern benötigt er neben dem Eisen Schmiede, die ihm gute Waffen anfertigen. Und das soll Minas Vater für ihn tun. Mina hofft, mit Pulgasari ihren Vater befreien und den Despoten vernichten zu können. 

Den Plot des Monsterfilms erzählen Zeichnerin Sheree Domingo und Szenarist Patrick Spät in ihrer Version der eben geschilderten Geschichte der Entführung der Schauspielerin und des Regisseurs nach. Dabei spiegelt die Geschichte des Monsterfilms auch die Geschichte von Choi Eun-hee und Shin Sang-ok und ihrem Kampf gegen ihren Entführer wieder. Insofern kommentiert und ergänzt gelungen die Geschichte von Pulgasari die des entführten Paares.

Mme Choi & die Monster“ ist eine äußerst gelungene und unterhaltsame Liebeserklärung an die japanischen Monsterfilme und eine historischen Nachhilfestunde über eine ziemlich unglaubliche Entführung. Schließlich entführen Diktatoren normalerweise Systemgegner, die sie dann foltern, inhaftieren und töten.

Bekannt wurde die Geschichte, als Choi Eun-hee und Shin Sang-ok 1986 in Wien die Flucht in den Westen gelang.

Pulgasari“ kann unter anderem hier angesehen werden: https://archive.org/details/Pulgasari_1985 Auf YouTube ist der Film auch zu finden.

Sheree Domingo/Patrick Spät: Mme Choi & die Monster

Edition Moderne, 2022

176 Seiten

24 Euro

Hinweise

Homepage von Sheree Domingo

Literaturport über Patrick Spät

Wikipedia über Sheree Domingo, Patrick Spät, Choi Eun-hee (deutsch, englisch), Shin Sang-ok (deutsch, englisch), ihre Entführung und Pulgasari“ (deutsch, englisch)