Neu im Kino/Filmkritik: „Ein Schweigen“ herrscht über eine Anwaltsfamilie

Juni 14, 2024

Der wahre Fall, von dem Joachim Lafosses „Ein Schweigen“ inspiriert ist, hat alle Zutaten für ein süffiges Drama oder eine ätzende Gesellschaftssatire in der Tradition von Claude Chabrol. Aber Lafosses Version der Geschichte ist ein extrem langsam erzähltes Drama, in dem vieles nur angedeutet wird, sich schwer, kaum oder oft auch sehr spät im Film langsam erschließt. Einiges bleibt auch nach dem Abspann nebulös.

Als Inspiration diente der Fall Viktor Hissel. Er war bei den Verhandlungen gegen den Kinderschänder Marc Dutroux der Anwalt von zwei Opferfamilien. Der Fall Dutroux erschütterte Mitte der neunziger Jahre Belgien. Auch hier in Deutschland wurde ausführlich über den Fall Dutroux berichtet. Über den Fall Hissel nicht. Er war eine bekannte Symbolfigur im Kampf gegen Kindesmissbrauch. Als seine pädophilen Neigungen bekannt wurden, war das für viele Belgier ein Schock. Er wurde angeklagt, sich zwischen 2005 und 2008 7500 kinderpornografische Bilder angesehen zu haben. Letztendlich wurde er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. 2009 versuchte sein Sohn ihn zu erstechen. Der Mordversuch misslang. Das Gericht hielt ihn zum Zeitpunkt der Tat für unzurechnungsfähig.

In „Ein Schweigen“ porträtiert Joachim Lafosse die Familie des renommierter Anwalts François Schaar. Es geht um aktuelle und dreißig Jahre zurückliegende Ereignisse über die bislang in der Familie des Anwalts geschwiegen wurde.

Was damals geschah, wird erst sehr spät und kryptisch – auch wenn wir es uns schon früh denken können – enthüllt. Davor und danach wird von einer zum begüterten Provinzbürgertum gehörenden Familie berichtet, die ihre Leichen im Keller verbuddelt und schweigt. Die noble Fassade wird immer gewahrt. Dass dieses Schweigen Auswirkungen auf alle Betroffenen hat, ist offensichtlich. Trotzdem unternimmt niemand etwas dagegen. Die Kamera beobachtet die Ereignisse extrem zurückhaltend. Lafosse vermeidet alles, was emotionalisieren könnte.

Er erzählt elliptisch und unterkühlt, gibt dem Publikum wenig Orientierung und bietet ihm keine Identifikationsfigur an. Keine Figur erzeugt ein nennenswertes Interesse. Dafür erfahren wir zu wenig über sie, ihre Gefühle, Probleme, inneren Konflikte und Wünsche.

Das Ergebnis ist ein dröges Drama, das einen auch als intellektuelles Puzzlespiels unbefriedigt zurücklässt.

Nicht auszudenken, was Claude Chabrol aus dem Stoff gemacht hätte.

Zu Lafosses früheren Filmen gehören „Die Ökonomie der Liebe“ und „Die Ruhelosen“.

Ein Schweigen (Un Silence, Belgien/Frankreich/Luxemburg 2023)

Regie: Joachim Lafosse

Drehbuch: Joachim Lafosse, Thomas Van Zuylen, Chloé Duponchelle (Co-Autor), Paul Ismaël (Co-Autor), Sarah Chiche (Mitarbeit), Matthieu Reynaert (Mitarbeit), Valérie Graeven (Mitarbeit)

mit Daniel Auteuil, Emmanuelle Devos, Matthieu Galoux, Jeanne Cherhal, Louise Chevillotte, Nicolas Buysse

Länge: 96 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Ein Schweigen“

AlloCiné über „Ein Schweigen“

Rotten Tomatoes über „Ein Schweigen“

Wikipedia über „Ein Schweigen“ (englisch, französisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Geschichten aus Afrika: „Omen“, Teufel und Hexen im Kongo

April 5, 2024

Es dauert nur wenige Minuten. Dann hat Alice Koffis Haare von einem imposanten, über viele Jahre gewachsenen Afro zu einer unauffälligen Kurzhaarfrisur geschnitten. Der Haarschnitt ist nötig, weil Koffi zu einer Familienfeier fahren, seine schwangere Frau, eine Weiße, der Familie vorstellen und ihren Segen für eine Heirat erhalten will. Sein Versuch, sich nach jahrelanger Abwesenheit in Belgien wieder mit seiner in einem Minendorf lebenden Familie zu versöhnen, schlägt fehl. Als er ein Baby im Arm hat, bekommt er Nasenbluten. Das Blut tropft auf das Baby. Seine gläubige Familie interpretiert das als böses Omen.

Ausgehend von diesem Ereignis entfaltet der 1978 in Lubumbashi (Demokratische Republik Kongo) geborene, seit vielen Jahren in Belgien lebende Musiker und Künstler Baloji eine breite Meditation über das Verhältnis von (Aber)glaube und Moderne im heutigen Kongo. Grob konzentriert er sich dabei auf vier Figuren, die unterschiedlich von der Hexerei betroffen sind und unterschiedlich mit ihr umgehen. Verbunden werden die miteinander verwobenen Geschichten und die verschiedenen Aspekten des Themas durch die Musik und die assoziative Montage der farbenfrohen, teils surrealen Bilder.

Das macht „Omen“ dann zu einem Experimentalfilm, bei dem die Oberfläche ansprechender als der nacherzählbare Inhalt ist. Eine herkömmliche Geschichte ist kaum erkennbar. Die Figuren, ihre Motive und ihre Beziehungen zueinander bleiben weitgehend rätselhaft. Und die Geschichte(n) entwickeln sich oft arg sprunghaft. Aber, wie gesagt, die Montage rettet einiges und als Experimentalfilm hat „Omen“ durchaus seinen Reiz.

Omen (Augure, Belgien/Deutschland/Frankreich/Niederlande/Südafrika/Demokratische Republik Kongo 2023)

Regie: Baloji

Drehbuch: Baloji, Thomas van Zuylen

mit Marc Zinga, Yves-Marina Gnahoua, Marcel Otete Kabeya, Eliane Umuhire, Lucie Debay, Denis Mpunga

Länge: 95 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Filmportal über „Omen“

Moviepilot über „Omen“

Metacritic über „Omen“

Rotten Tomatoes über „Omen“

Wikipedia über „Omen“