Neu im Stream/Filmkritik: „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“, Radu Jude

Mai 28, 2024

Vielleicht beginne ich meine Kritik von Radu Judes neuem Film „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ mit einer Erklärung des Regisseurs über seinen Film:

‚Do Not Expect Too Much From The End Of The World‘ (the title quotes an aphorism by Stanislaw Jerzy Lec) is a fragmentary film (part comedy-part road-movie, part montage film-part camera based film) about work, exploitation, death and the new gig economy.

At the same time, it is a film dealing with the difficult problem of image production. All these

are at the surface level, as they say – but the film only has this one level, it is a film of surfaces, a film with no depth.

And it is a film which, in its structure and mise-en-scene, is even more amateurish than my last films.“

Das ist zutreffend, erklärt einiges und beugt gegen Kritik vor. Ihm Eindimensionalität vorzuwerfen, wenn er eindimensional sein will, ist wie einem Punksong vorzuwerfen, keine von einem Sinfonieorchester filigran gespielte Oper zu sein. Oder einem Woody-Allen-Film die Abwesenheit von Action und CGI vorzuwerfen.

Und trotzdem bleibt ein ungemütliches Gefühl. Jude bezieht keine eindeutige Position. Er zeigt nur, präsentiert Positionen, stellt sie gegeneinander, dekonstruiert sie und seine episodische Filmgeschichte. Er überlässt dem Zuschauer die Entscheidung, auf welcher Seite sein Film steht und was sein knapp dreistündiger Rundumschlag gegen den Kapitalismus und Rumänien genau sagen will und bewirken möchte.

Die schwarzhumorige Satire besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil „Angela: Konversation mit einem Film von 1981“ zeigt Jude einen Tag aus dem Leben von Angela. Die Produktionsassistentin fährt durch Bukarest. Sie soll mit verschiedenen Menschen, die als Betroffene in einem Video über Sicherheit am Arbeitsplatz auftreten könnten, Vorgespräche führen. Sie zeichnet die Gespräche auf. Wer dann in dem Video auftritt, wird später entschieden. Zwischen diesen Gesprächen trifft sie auch andere Menschen, wie Uwe Boll (als er selbst), der gerade in der rumänischen Hauptstadt seinen neuen Film dreht. Und sie macht in jeder freien Minute als Bobiță TikTok-Videos. Bobiță ist ein glatzköpfiger Mann, der Andrew Tate vergöttert und ungefiltert hasserfüllte, rechtsradikale, reaktionäre und chauvinistische Tiraden über Frauen und die Gesellschaft herauskotzt. Die TikTok-Videos sind eine Triebabfuhr, die gleichzeitig ein Aufruf zum Hass sind. Der von ihr benutzte Filter ist schon auf den ersten Blick auffallend schlecht und enthüllt später immer wieder ihre wahre Identität. Ihre Follower scheint das nicht zu stören.

In diesen, mit zwei Stunden längerem Teil der Schwarzen Komödie schneidet Jude Bilder aus Lucian Bratus „Angela merge mai departe“ (Rumänien 1981). In dem Spielfilm fährt die Taxifahrerin Angela durch Bukarest. Dorina Lazar, die damals die Taxifahrerin spielte, spielt jetzt die Mutter eines nach einem Arbeitsunfall im Rollstuhl sitzenden Mannes. Dieser Mann wird letztendlich für das Video über Sicherheit am Arbeitsplatz ausgewählt.

Der zweite Teil „Ovidiu (Rohmaterial)“ zeigt dann die Dreharbeiten für das Video. In einer vierzig Minuten langen statischen Einstellung, die nur den Verunglückten mit seiner Familie zeigt, zeigt Jude, wie die Geschichte des Mannes für die Aufnahme geändert wird. Denn einiges möchten die Auftraggeber für das Video so nicht hören. Sie sind nämlich auch für den Arbeitsunfall mitverantwortlich und prozessieren gerade über die Höhe der Entschädigung.

Mit 163 Minuten ist Radu Judes neuer Film, nach seinem Berlinale-Gewinner „Bad Luck Banging or Loony Porn“, länger als nötig. Er lässt Angela ewig durch das anscheinend riesige Bukarest fahren. Er lässt sie mehr Videos als nötig drehen. Der erste Teil von „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ ist eine Situationsbeschreibung, die einfach auf alles einschlägt, was gerade in Rumänien und der Welt aktuell ist. Wie ein kleines Kind schlägt er wild um sich und versucht dabei möglichst viele Menschen zu verärgern, zu verstören und alle zu irritieren. Auf welcher Seite Jude bei seinem Rundumschlag steht, bleibt unklar. Er scheint alle seine Figuren zu verachten und genussvoll in die Pfanne zu hauen. So schleimt sich seine Protagonistin Angela, die gerne Regisseurin wäre, zuerst bei Uwe Boll ein, dreht ein Bobiță-Video mit ihm und sagt in der nächsten Szene zu einer Freundin, dass Boll ein Idiot sei. Da kann sich dann jeder heraussuchen, was ihm gefällt.

Der zweite Teil, in dem Video für mehr Arbeitssicherheit gedreht wird, und dabei auf jede Formulierung des Geschädigten geachtet wird, ist dann fokussierter.

Insgesamt hinterlässt Judes atemlose Mischung aus Schwarze Komödie und Satire einen zwiespältigen Eindruck.

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (Nu astepta prea mult de la sfârsitul lumii, Rumänien/Luxemburg/Frankreich/Kroatien 2023)

Regie: Radu Jude

Drehbuch: Radu Jude

mit Ilinca Manolache, Ovidiu Pîrsan, Nina Hoss, Dorina Lazar, László Miske, Uwe Boll

Länge: 163 Minuten

FSK: ?

Auf MUBI verfügbar.

Hinweise

Moviepilot über „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“

Metacritic über „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“

Rotten Tomatoes über „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“

Wikipedia über „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ (deutsch, englisch)

Mubi: Interview mit Radu Jude (17. Oktober 2023)

taz: Interview mit Radu Jude (3. Mai 2024)

Meine Besprechung von Radu Judes „Bad Luck Banging or Loony Porn“ (Babardeala cu bucluc sau porno balamuc, Rumänien/Luxemburg/Tschechische Republik/Kroatien 2021)


TV-Tipp für den 28. April: Cinema Perverso

April 28, 2016

RBB, 22.45
Cinema Perverso (Deutschland 2015, Regie: Oliver Schwehm)
Drehbuch: Oliver Schwehm
Kurzweilige, wenn auch nicht sonderlich tiefgründige einstündige Doku über die Bahnhofskinos, die heute nur noch (falls überhaupt) als Abspielstätte für schlechte Filme irgendwo zwischen Horror, Gewalt und Sex bekannt sind. Einige Filme haben immerhin einen gewissen Kultstatus und, ja, „Cinema Perverso“ macht Lust darauf, sich einige dieser Trash-Perlen wieder (?) anzusehen.
Dabei war das mit den Bahnhofskinos (bzw. den Bahnhofslichtspielen oder, abgekürzt, Bali) als erweiterter Warteraum für Reisende mal anders gedacht und in diesen Momenten wird die Doku zu einer kleinen Geschichte der BRD.
Mit Jörg Buttgereit, Uwe Boll, Ben Becker, Mechthild Großmann, Wolfgang Niedecken, Christian Anders, René Weller
Hinweise
Arte über „Cinema Perverso“
Lunabeach TV über „Cinema Perverso“ (dort gibt es Infos zur DVD, den Trailer und Bilder)


TV-Tipp für den 14. Dezember: Cinema Perverso

Dezember 14, 2015

NDR, 23.45
Cinema Perverso (Deutschland 2015, Regie: Oliver Schwehm)
Drehbuch: Oliver Schwehm
Kurzweilige, wenn auch nicht sonderlich tiefgründige einstündige Doku über die Bahnhofskinos, die heute nur noch (falls überhaupt) als Abspielstätte für schlechte Filme irgendwo zwischen Horror, Gewalt und Sex bekannt sind. Einige Filme haben immerhin einen gewissen Kultstatus und, ja, „Cinema Perverso“ macht Lust darauf, sich einige dieser Trash-Perlen wieder (?) anzusehen.
Dabei war das mit den Bahnhofskinos (bzw. den Bahnhofslichtspielen oder, abgekürzt, Bali) als erweiterter Warteraum für Reisende mal anders gedacht und in diesen Momenten wird die Doku zu einer kleinen Geschichte der BRD.
Anschließend laufen die Italo-Western „Eine Bahre für den Sheriff“ (um 00.45 Uhr), „Fünf Klumpen Gold“ (um 02.05 Uhr) und „Töte Amigo“ (um 03.25 Uhr).
Mit Jörg Buttgereit, Uwe Boll, Ben Becker, Mechthild Großmann, Wolfgang Niedecken, Christian Anders, René Weller
Hinweise
Arte über „Cinema Perverso“ (dort bis 29. Januar 2016 in der Mediathek)
Lunabeach TV über „Cinema Perverso“ (dort gibt es Infos zur DVD, den Trailer und Bilder)