„Es war einmal ein Junge namens Ray Pye,…“

Es dauerte 25 Jahre, bis der Knoten platze und Hollywood begann, die Romane von Jack Ketchum zu verfilmen. Dabei genoss bereits sein erstes Werk „Off Season“ (Beutezeit) unter Horrorfans schnell Kultstatus. Stephen King, um nur seinen bekanntesten Fan zu nennen, preist seit Jahren unermüdlich seine Werke. Aber Hollywood schwieg.

2005 war mit der Verfilmung des für den Bram-Stoker-Preis nominierten „The Lost“ dann anscheinend der Bann gebrochen. Schnell folgten „The Girl next Door“ und „Red“ (Filmbesprechung folgt). „Offspring“ befindet sich gerade in der Postproduktion. Und was, wenn wir an die vielen misslungenen Stephen-King-, Elmore-Leonard- und Donald-Westlake-Verfilmungen denken, am erstaunlichsten ist, ist die Tatsache, dass die Jack-Ketchum-Verfilmungen bis jetzt wirklich den Tonfall der Vorlagen treffen.

Jack Ketchums Roman „The Lost“

In „The Lost“ erzählt Jack Ketchum die Geschichte eines Psychopathen und mehrerer, ihn wie Satelliten umkreisender, seelisch verlorener Menschen während des für sie nicht existierenden Summer of Love.

1965 ermordet der Teenager Ray Pye nachts am See Lisa Steiner. Elise Hanlon kann schwerverletzt flüchten. Pyes Freunde Tim Bess und Jennifer Fitch haben die Tat beobachtet und ihm geholfen die Spuren zu verwischen.

Vier Jahre später stirbt Elise Hanlon, die nie aus dem Koma erwachte. und der Kleinstadt-Detective Charlie Schilling möchte den Fall immer noch lösen. Doch anstatt den Krimiplot energisch voranzutreiben, entwirft Jack Ketchum ein pessimistisches Porträt einiger Bewohner der Kleinstadt Sparta, New Jersey, bei dem die Zahl der Sympathieträger an den Fingern einer abgehackten Hand abgezählt werden kann. Neben dem an Minderwertigkeitskomplexen leidenden Psychopathen Ray Pye, der bevorzugt jüngere Frauen vögelt und als kleiner Drogenhändler der ungekrönte König der Kleinstadtjugendlichen ist, den ihm hörigen Freunden Tim Bess und Jennifer Fitch, die nichts gegen Rays zahlreiche Seitensprünge hat, sind das vor allem die beiden 1965 ermittelnden Polizisten und ein gerade aus San Francisco zugezogenes Mädchen.

Detective Charlie Schilling ist ein geschiedener Alkoholiker, der seine Abende nach dem Besuch in der Bar, allein vor dem Fernseher mit einer Dose Bier verbringt. Sein Kollege Ed Anderson ist inzwischen Frührentner und hat eine Beziehung zur gerade volljährig gewordenen Sally Richmond. Katherine Wallace, das neuen Mädchen in der Stadt, findet Ray Pye interessant, hat eine in der Irrenanstalt sitzende, todkranke Mutter und stiftet Ray zu mehreren kleinen Verbrechen an. Keiner von ihnen taugt als Vorbild. .

Nach Hanlons Tod beginnt Charlie Schilling wieder den Druck auf Pye zu erhöhen. Er will ihn jetzt endlich als Doppelmörder überführen, indem er dessen übergroßes Ego beschädigt. Er sprengt eine Party von Pye, bei der er kostenlos Drogen an Minderjährige verteilte. Gleichzeitig überzeugt er Sally Richmond, die Stelle in dem Motel der Familie Pye, wo auch Ray arbeitet, zu kündigen, und er redet mit Pyes Freunden. Pyes Nerven sind deshalb schon zum Zerreißen gespannt. Verschärfend kommt für den Kleinstadt-Aufreißer hinzu, dass Sally nicht mit ihm ins Bett steigen will, seine große Liebe Katherine die Beziehung zu ihm beendet und Tim, der für ihn Drogen bei sich aufbewahrt und dabei ungefragt einen Teil für sich abzweigt, ihn betrügt.

Das alles wird Pye irgendwann zuviel und er explodiert. Er beginnt sich an all den Menschen, die sich ihm verweigerten, in einem Amoklauf zu rächen.

Jack Ketchums großartiger, aber auch bedrückender und beunruhigender Roman ist die fast klinische Studie eines Amokläufers und seines Umfeldes.

Dabei ist „The Lost“ so sehr mit der Handlungszeit, dem August 1969, verbunden, dass eine andere Handlungszeit unmöglich erscheint. Denn während die Hippiebewegung den Summer of Love und Woodstock feiert, ist in Sparta nichts von der Utopie einer besseren Welt angekommen. Nur die Drogen und die Gewalt, gepaart mit einer kräftigen Portion reaktionärem Denken, sind in der Provinz angekommen; – falls sie nicht schon immer da waren. Pyes erste Sätze im Buch und im Film sind, nachdem er sieht, wie die Freundinnen Steiner und Hanlon sich einen unschuldigen Kuss geben: „Ach du Scheiße. Lesben. Mann, das ist echt widerlich.“

Das und seine Neugier, wie es ist, einen Menschen sterben zu sehen, führen zu den ersten Morden.

Später ist er von dem Morden der Charlie-Manson-Familie, vor allem dem bestialischen an Sharon Tate, fasziniert. Zum wenige Tage später stattfindenden Woodstock-Festival will er allerdings nicht fahren. Denn dort ist alles versammelt, was er verabscheut. Insofern zeigt Jack Ketchum, ähnlich wie die Rockband „Velvet Underground“, die düstere Seite der späten sechziger Jahre.

Chris Sivertsons Film „The Lost“

Chris Sivertson, der das Drehbuch schrieb und Regie führte, verlegte die Geschichte in eine seltsam zeitlose Gegenwart, indem er alle direkten Hinweise auf die Sechziger tilgte. Aber die Gegenwart mit Computern, Flachbildschirmen, Handys und HipHop ist in Sivertsons Kleinstadt-Amerika noch lange nicht angekommen. Davon abgesehen folgt er fast schon sklavisch Ketchums Geschichte und dessen düsterer Vision der menschlichen Gemeinschaft von kaputten und dysfunktionalen Beziehungen. Die einzige intakte Beziehung im Buch und im Film, die Liebe von Ed Anderson und Sally Richmond, wird von ihnen vor der Öffentlichkeit verschwiegen. Damals, wir erinnern uns an Vladimir Nabokovs 1955 zuerst in Frankreich erschienes Meisterwerk „Lolita“, war eine Beziehung zwischen einer gerade gesetzlich volljährigen Frau und einem sechzigjährigen Mann nicht viel weniger skandalös als heute.

Die oft aus zahlreichen Nebenrollen bekannten Schauspieler sind großartig: Michael Bowen (Jackie Brown, Magnolia, Kill Bill) als fanatischer Alki-Polizist. Ed Lauter (Die Kampfmaschine/Die härteste Meile, French Connection II, Nevada-Pass, Familiengrab, Cujo) als sein Ex-Kollege und Tony Carreiro (Lethal Weapon 2, Ensemblemitglied der bei uns nie gezeigten Comedy-Serie „Doctor, Doctor“ und zahlreiche Gastauftritte in TV-Serien) als Katherines Vater. Eine besondere Erwähnung verdient Dee Wallace-Stone (E. T., Cujo). Sie tritt nur in einer einzigen Szene als Mutter von Elise Hanlon auf. Aber ihr Gespräch an der Haustür mit Polizist Schilling als von Schmerzen geplagte, betrunkene, von zuviel Alkohol und Drogen aufgequollene und verlebte Mutter bleibt nachhaltig im Gedächtnis.

Auch die noch unbekannten jugendlichen Darsteller, die teilweise aus einschlägigen Filmen und Gastauftritten in TV-Serien bekannt sind, überzeugen: Marc Senter als Ray Pye, Shay Astar als Jennifer Fitch, Alex Frost als Tim Bess, Megan Henning als Sally Richmond und Robin Sydney als Katherine Wallace.

„Jack Ketchum’s The Lost“ ist eine gelungene Romanverfilmung und ein präzises Porträt einer Gruppe Jugendlicher und wie ein Verbrechen ihr Leben beeinflusst. Es ist allerdings auch kein angenehmer Film. Gerade wegen des Mangels an potentiellen Sympathieträgern und seinen präzisen Beobachtungen ist es kein Film für einen entspannt-vergnügten Samstagabend. Denn entgegen dem Hollywood-Trend heischt Sivertson in seiner Independent-Produktion nicht um falsche Sympathie für seine Charaktere. Diese Haltung erinnert an Larry Clarks illusionslosem Blick auf die New Yorker Jugendlichen im New York der Neunziger in seinem semidokumentarischen Debüt „Kids“.

Sivertson, der mit „Jack Ketchum’s The Lost“ sein Debüt als alleiniger Regisseur gab und später den Razzie-Liebling „I know who killed me“ (Ich weiß, wer mich getötet hat) drehte, ist hier ein erstaunlich souveräner Regisseur. Schon seine präzise Einführung des Psychopathen Ray Pye als letztendlich und trotz aller Coolness ziemlich armen Wicht verrät alles wirklich Wissenswerte über ihn. Der Film beginnt mit dem Textinsert „Es war einmal ein Junge namens Ray Pye, der steckte zerdrückte Bierdosen in seine Stiefel um größer zu sein.“ Erst danach sehen wir von hinten den zu einem im Wald liegenden Klo stacksenden Pye und seine verklemmt-witzige Reaktion, als er das nackte Mädchen, das er später umbringen wird, sieht. Dazu ertönt „The Pied Piper“, gesungen von Crispian St. Peters und wir wissen, dass wir mehr über diesen Typen im ärmellosen, schwarzen T-Shirt erfahren wollen.

Die Charaktere, ihre Beziehungen und die sich zwischen ihnen entwickelnde Dynamik stehen in „Jack Ketchum’s The Lost“ eindeutig im Mittelpunkt. Denn trotz der FSK-18-Freigabe, die aufgrund des durchweg pessimistisch-nihilistischen Tonfalls in Ordnung geht, ist bis auf den Doppelmord an den Teenagern am Anfang und Ray Pyes Amoklauf am Ende des Films wenig körperliche Gewalt zu sehen.

Die DVD

Das Bonusmaterial ist sehr überschaubar, weil der interessanteste Teil der Verleihfassung, der Audiokommentar, nicht übernommen wurde. Der Grund dafür ist ganz einfach: Für die Kaufversion musste New KSM die Schere ansetzen. Dabei wurde, wie der Schnittbericht zeigt, das Ende um über zwei Minuten gekürzt.

Ich halte das für eine Unverschämtheit.

Nicht dass New KSM die Schere ansetzte. Das ist aus ökonomischen Gründen nachvollziehbar. Sondern dass wegen der FSK Erwachsene einen Film nur verstümmelt sehen dürfen. Denn wenn ich mir das Originalende ansehe, muss ich sagen, dass ich in anderen Filmen, wie „Saw“, schon schlimmeres gesehen habe und hier die Gewalt die konsequente und aus der Geschichte begründete Eruption einer lange aufgestauten Wut von Pye und Schilling ist. Das ist schmerzhaft anzusehen, aber Erwachsene sollten so etwas sehen dürfen.

the-lost

Jack Ketchum’s The Lost – Teenage Serial Killer (The Lost, USA 2005)

Regie: Chris Sivertson

Drehbuch: Chris Sivertson

Mit Marc Senter, Shay Astar, Alex Frost, Megan Henning, Robin Sydney, Dee Wallace-Stone, Michael Bowen, Ed Lauter, Erin Brown

DVD

New KSM

Bild: 16:9, 2,35:1

Ton: Deutsch/Englisch (Dolby Digital 5.1)

Bonus: Trailer, Biographien, Bildergalerie, Wendecover

Laufzeit: ca. 113 Minuten

Freigabe: 18 Jahre (FSK)

Vorlage

Jack Ketchum: The Lost

Cemetery Dance Publications, 2001

(Eine deutsche Übersetzung ist im Heyne Verlag in Arbeit.)

Hinweise

MySpace-Seite zum Film

Horror Fanatics: Interview mit Chris Sivertson zu „The Lost“

eFilmCritic: Interview mit Chris Sivertson zu „The Lost“

Schnittberichte mit einem genauen Schnittbericht

DVD-Forum: Schnittbericht

Kriminalakte: Interview mit Jack Ketchum

Meine Besprechung von Jack Ketchums “Amokjagd” (Joyride, 1995)

Meine Besprechung von Jack Ketchums “Blutrot” (Red, 1995)

1 Responses to „Es war einmal ein Junge namens Ray Pye,…“

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