Guter Anfang, sehr schwacher Rest

Farrow - Eishauch

(Kurze Warnung: Diese Besprechung ist nicht spoilerfrei.)

Nachdem Thomas Wörtche und Tobias Gohlis John Farrows „Eishauch“ überschwänglich loben und er vor einem Jahrzehnt für den Arthur-Ellis-Preis nominiert war, erwartete ich natürlich einiges von diesem engbedruckten 600-seitigen Werk und wurde bitter enttäuscht. Denn für mich ist „Eishauch“ kein fast perfekter Roman, sondern ein Roman mit einem guten Anfang, einer sehr zähen Mitte und einem für einen Polizeiroman albernen Ende.

„Eishauch“ beginnt mit einem Prolog, der mir beim Lesen gefallen hat, aber letztendlich, wie ein Vorwort, überblättert werden kann. In ihm erhält Detective Emile Cinq-Mars in einem Lagerhaus in Montreal das Angebot, bei der Spezialeinheit Wolverines mitzumachen. Die Einheit soll den Krieg der Hells Angels gegen die Rock Machine beenden und den Zaren, den großen, unbekannten Hintermann, überführen. Während des Treffens explodiert vor ihren Augen das Auto des Bankers der Hells Angels.

Cinq-Mars ist der sattsam bekannte harte, einzelgängerische Bulle mit der überragenden Verhaftungsquote. Außerdem, was ihn von einigen anderen Ermittlern unterscheidet (und dem Autor beim Plotten viel Arbeit erspart), erspürt Cinq-Mars die Täter. Selbstverständlich lehnt er das Angebot der Wolverines (die später nicht mehr auftauchen) ab.

Weiter geht’s im ersten Teil einige Monate später. Am Heiligabend wartet Cinq-Mars mit seinem neuen Partner Bill Mathers auf einen angekündigten Drogendeal. Die Information hat Cinq-Mars von einem seiner vielen, unentgeltlich arbeitenden Informanten erhalten. Der Deal findet nicht statt, aber sie finden in einer ausgeräumten Wohnung einen toten Weihnachtsmann, der einer von Cinq-Mars’ Spitzel war und ein Schild mit den eindeutigen Worten „Frohe Weihnachten, M5“ hält. Der angesprochene Cinq-Mars will natürlich den Mörder finden und seine beste Spur führt über eine Autowerkstatt zu einem russischen Schiff. Beide Orte gehören zu einer Autoschieberbande, die gute Kontakte zur Polizei hat, und auch irgendwie mit den sich bekämpfenden Rockerbanden verknüpft ist

Ungefähr zur gleichen Zeit rekrutiert Selwyn Norris (über dessen Hintergrund wir lange nichts erfahren) die Studentin Julia Murdick für einen Undercover-Einsatz. Sie soll die Tochter eines Bankers spielen, der den im Prolog ermordeten Banker bei den Bikern ersetzen soll. Und der Journalist Okinder Boyle soll die Hintergründe des Weihnachtsmann-Mordes recherchieren.

Dazwischen bringen die Rocker mit weiteren Bombenattentaten sich und auch ein unschuldiges Kind um. Aber das beeinflusst die Ermittlungen von Cinq-Mars nicht weiter. Der russische und der amerikanische Geheimdienst sind auch irgendwie involviert und die Mafia begnügt sich mit einem Platz auf den Zuschauerrängen.

In der Mitte schleppt sich die Geschichte dann teilweise über Dutzende von Seiten ohne einen erkennbaren Fortschritt hin. Es passiert nichts wichtiges, aber es ist genug Zeit, die gesamte Konstruktion und Logik der Geschichte zu überdenken. Dazu gehören Fragen, wie warum eine Studentin für einen gefährlichen Undercover-Einsatz rekrutiert wird. Warum sie mitmacht. Warum immer wieder Menschen vollkommen grundlos sie selbst schwer belastende Geständnisse ablegen. Warum Cinq-Mars ein Netz von Informanten hat, die ihm ohne Gegenleistung und anonym Tipps geben. Warum John Farrow unbedingt Rockerbanden, Mafia, Geheimdienste, korrupte Polizisten und das friedliche Landleben in einer Geschichte miteinander verbinden muss. Warum das alles nicht um die Hälfte gekürzt wurde. Dann könnte „Eishauch“ als netter Thriller durchgehen, aber bei sechshundert Seiten bleibt beim Lesen auch genug Zeit, um zu viele Logiklöcher zu entdecken und sich über Klischees und, gegen Ende, rapide zunehmenden ad-hoc-Entwicklungen zu stören.

Das letzte Drittel lebt nur noch von Cinq-Mars’ erratischen Ermittlungsmethoden. Er beschuldigt willkürlich Verbrecher und Polizisten. Er nimmt die Beschuldigungen ebenso willkürlich wieder zurück. Trotzdem helfen ihm einige der Beschuldigten weiter, anstatt von zu Schweigen. Er arbeitet mit Selwyn Norris zusammen, weil er ihm die Wahrheit erzählt (Cinq-Mars weiß das. Ein normaler Ermittler würde Norris wahrscheinlich verhaften.). Und dann gibt es immer wieder Stellen, die einen verwundert den Kopf schütteln lassen. Da schreibt John Farrow auf gut zehn Seiten mäßig spannend, wie eine Bombe in einem parkenden Auto platziert wird. Nachdem die Bösewichte einen kurzen Streit über die Zündung der Bombe haben, explodiert sie und das mit vier Personen besetzte Auto geht in die Luft. Erst zwei Seiten später erfahren wir, dass Cinq-Mars in dem Auto war und leicht verletzt überlebte. Die Namen der drei Mitpassagiere erfahren wir, bis auf Bill Mathers, der sofort zu dem verletzten Cinq-Mars eilt, dann teilweise durch eifriges Vor- und Zurückblättern. Cinq-Mars als echter Held geht natürlich nicht ins Krankenhaus (Kopfwunde? Pah!) und in der nächsten Szene, einige Stunden später, eilt er von Verhörzimmer zu Verhörzimmer.

Wer allerdings glaubt, dass es nicht noch schlimmer kommen kann, darf auf den letzten Seiten die Befreiung einer Geisel auf dem russischen Schiff lesen.

Natürlich vertraut Cinq-Mars nicht auf die korrupte Polizei, sondern er holt seine pensionierten Kumpels. Sie laufen auf das Schiff (Eine Wache gibt es nicht. Die Bösen sind alle irgendwie im Schiffsbauch beschäftigt.). Cinq-Mars organisiert einen Stromausfall von genau 200 Sekunden (Uh, warum 200? Warum nicht 100? Oder einfach eins, zwei, drei Minuten? Vor allem wozu?). Im Maschinenraum stellen sie dann fest, dass die Notbeleuchtung doch noch brennt und sie so zum Glück etwas sehen (Ja, so ein großes Schiff ist unter Deck schon ein ziemlich dunkles Teil). Es wird ein wenig herumgeballert und Cinq-Mars kann die schöne Maid retten. Der Bösewicht entkommt; wenigstens vorläufig.

Und ich habe schon lange kein Buch mehr gelesen, das nach einem guten Auftakt so stark abbaute.

John Farrow: Eishauch

(übersetzt von Friederike Levin)

Knaur, 2009

592 Seiten

8,95 Euro

Originalausgabe

City of Ice

Century Books, London, 1999

Hinweise

Wikipedia über John Farrow

January Magazine: Interview mit John Farrow

Arte: Die Besprechungen von Thomas Wörtche und Tobias Gohlis

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