Ich glaube, bei „Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“ kann ich es kurz machen.
Obwohl – als ich das das letzte Mal sagte, hatte ich danach eine Seite geschrieben und hatte noch lange nicht alles gesagt.
Aber wer die vergangenen Monate nicht nur mit dem Ansehen von Marvel-Trailern verbrachte, hat von „Birdman“ gehört. Seit einigen Wochen sammelt die Komödie verdient einen Preis nach dem nächsten ein. Denn Alejandro González Iñárritu gelingt ein wunderschön schwereloser Film, der ernst und witzig und philosophisch ist und einen Einblick in das Film- und Theatergeschäft liefert, der gerade durch die hochkarätige Besetzung an Würze gewinnt.
Dabei ist der Hauptplot denkbar einfach: Riggan Thomson, ein alternder Hollywood-Star, will mit einem ambitionertem Broadway-Theaterstück, das auf Raymond Carvers Kurzgeschichte „What we talk about, when we talk about love“ basiert, seine darbende Karriere wieder auf die richtige Spur setzen. Iñárritus zweistündige Tour de Force ist eine Chronik der letzten Tage und Stunden vor der Aufführung, wenn die Emotionen hochkochen und die Zweifel groß sind.
Riggan war in Hollywood ein Star, als er vor Jahrzehnten Birdman spielte. Birdman ist ein erfundener Superheld. Noch heute wird Riggan für diese kindische Rolle von seinen Fans verehrt. Und Birdman ist Riggans Alter Ego, das ihm immer wieder, ungefragt, die Leviten liest und die Regieambitionen von Riggan am St. James Theater für ausgemachten Blödsinn hält.
Batman ist dagegen im filmischen Kosmos ein höchst realer Superheld und Riggan-Darsteller Michael Keaton war 1989 und 1992 in den beiden „Batman“-Filmen von Tim Burton als Batman-Darsteller ganz oben in Hollywood. Seitdem konnte er an diese Erfolge nicht mehr anknüpfen. Zuletzt trat er in prägnanten Nebenrollen auf, die den Film bereichterten, aber in der Werbung nicht groß angekündigt wurden und wegen Keaton ging niemand in „RoboCop“ oder „Need for Speed“. Da kann man schon darüber nachdenken, wieviel die Filmrolle mit dem echten Michael Keaton zu tun hat.
Als Hauptdarsteller hat Riggan den als extrem schwierig geltenden Mike Shiner engagiert, der es sich anscheinend zur Lebensaufgabe gemacht hat, als Diva das gesamte Universum um sich herum kreisen zu lassen und dem Regisseur und den Geldgebern mindestens einen Nervenzusammenbruch zu bescheren. Nicht pro Produktion, sondern an jedem Tag. Aber beim Publikum ist er beliebt. Er kann eine Produktion zum Erfolg machen. Beim Publikum und bei der Kritik.
Gespielt wird Mike von Edward Norton, der unbestritten einer der besten Schauspieler seiner Generation ist und der in Hollywood als extrem schwierig gilt. Einige seiner Streitereien mit Produzenten und Regisseuren sind allgemein bekannt. Ich sage nur „American History X“ und „Der unglaubliche Hulk“.
Die anderen Schauspieler, obgleich prominent, sind nicht so sehr auf ein bestimmtes Image und Rolle festgelegt.
Und dann, wenn man es nicht weiß, fällt es einem erst ziemlich spät auf: Alejandro Iñárritu erzählt den Film ohne einen sichtbaren Schnitt. Wenn eine längere Zeitspanne vergeht, gibt es Zeitrafferaufnahmen vom Himmel, aber ansonsten bewegt sich die Kamera scheinbar schwerelos durch den Raum, ohne dass jemals ein Found-Footage-Gefühl entsteht oder die Wackelkamera nervt. Emmanuel Lubezki, unter anderem die Alfonso-Cuarón-Filme „Gravity“ und „Children of Men“ (wo er schon extrem lange, ungeschnittene Action-Szenen drehte) und die Terrence-Malick-Filme „To the Wonder“, „Tree of Life“ und „The new World“, gebührt hier die Ehre, etwas scheinbar unmögliches möglich gemacht zu haben.
Nachdem ich jetzt schon das Drehbuch, die Schauspieler, die Kamera und die Regie abgefeiert habe, muss ich auch etwas zur Musik sagen, die zu den besten Filmmusiken der vergangenen zwölf Monate gehört. Normalerweise soll die Filmmusik ja nur die Handlung unterstützen und sie nicht stören. Die Musik ist von Antonio Sanchez, einem Mitglied verschiedener Gruppen von Jazzgitarrist Pat Metheny. Er spielte am Schlagzeug eine Filmmusik ein, die banal gesagt wie eine Mischung aus der Übungsstunde eines Jazz-Drummers und freien Improvisationen klingt. Sie drängt sich immer wieder in der Vordergrund; vor allem wenn im Kopf von Riggan mal wieder alles drunter und drüber geht. In diesen Momenten verdeutlich das entfesselte, atonale Free-Jazz-Drumming akustisch, was Riggan fühlt: Chaos mit einer darunterliegenden Ordnung. Und, weil Sanchez seine Improvisationen bereits vor dem Dreh einspielte, verwandte Iñárritu sie beim Dreh, um den Schauspielern den Rhythmus der Szene zu verdeutlichen.
Sanchez‘ Soundtrack ist inzwischen für zehn Filmpreise nominiert (unter anderem den Golden Globe) und zehn Preise hat er schon erhalten.
„Birdman“ ist für neun Oscars nominiert (bester Film, bester Hauptdarsteller, bester Nebendarsteller, beste Nebendarstellerin, beste Regie, bestes Drehbuch, beste Kamera, bester Ton und bester Tonschnitt). Für 149 weitere Preise ist er momentan nominiert und bis jetzt erhielt die wundervoll kurzweilige, vor kindlicher Entdeckerfreue und Experimentierfreude sprudelnde Komödie schon 129 Preise.
Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) (Birdman, USA 2014)
Regie: Alejandro G. Iñárritu
Drehbuch: Alejandro G. Iñárritu, Nicolás Giacobone, Alexander Dinelaris Jr., Armando Bo
mit Michael Keaton, Zach Galifianakis, Edward Norton, Andrea Riseborough, Amy Ryan, Emma Stone, Naomi Watts, Lindsay Duncan, Merritt Wever, Jeremy Shamos, Bill Camp, Damian Young
Länge: 120 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Amerikanische Homepage zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Birdman“
Moviepilot über „Birdman“
Metacritic über „Birdman“
Rotten Tomatoes über „Birdman“
Wikipedia über „Birdman“ (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von Alejandro G. Iñárritu „Biutuful“ (Biutiful, Mexiko/USA 2010)
Homepage von Antonio Sanchez
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Das Publikumsgespräch beim NYFF
DP/30 unterhält sich mit Alejandro Iñárritu
[…] Mehr in meiner ausführlichen Besprechung der Komödie. […]