Buch- und DVD-Kritik: Über „Narcos“ und „Narconomics“

Die letzte Meldung zum Drogenkrieg: Jeremy Douglas, der Asien-Pazifik-Vertreter der UN-Drogenbehörde UNODC sagte Ende Oktober: „Der Anti-Drogen-Krieg des vergangenen halben Jahrhunderts hat keine Resultate gebracht. Zahlen machen deutlich, dass die Lage schlimmer denn je ist.“

Wer wissen möchte, warum er scheiterte, findet unter anderem in der Serie „Narcos“ und dem Sachbuch „Narconomics“ Erklärungen.

Narcos“, eine von Carlo Bernard, Chris Brancato und Doug Miro erfundene Netflix-Serie, erzählt die Geschichte des USA-Südamerikanischen Drogenkrieges seit den frühen Siebzigern bis, nun, wir werden sehen. In der ersten Staffel (die zweite ist bereits veröffentlicht, eine dritte und vierte Staffel sind bestellt) geht es um Pablos Escobar (1. Dezember 1949 – 2. Dezember 1993) und seinen Aufstieg. Die erste Staffel endet im Juli 1992, als Escobar aus dem Gefängnis „La Catedral“ (das er in jeder Beziehung nach seinen eigenen Wünschen gestaltete) in den Dschungel flüchtet. Escobars Gegner ist der DEA-Agent Steve Murphy, der sich Ende der siebziger Jahre von Florida nach Kolumbien versetzen lässt und der in den ersten acht von zehn Episoden mit seiner Erzählerstimme die sich durchgehend nah an der Realität bewegenden, kongenial verdichteten Ereignisse kommentiert. Murphys Freund und Vertrauter ist sein Partner Javier Peña, der in der Serie schon länger im Land ist. In Wirklichkeit kam Peña erst 1989 ins DEA-Büro in Bogotá (und einige der Fotos, die er damals schoss, sind in James Mollisons Bildband „Escobar – Der Drogenbaron“ veröffentlicht).

In den letzten beiden Episoden verändert sich dann das Erzähltempo von einem Scorsese-haftem Epos hin zur langsamen Erzählweise des Serienfernsehens, in dem es, auch wenn es einen oder mehrere folgenübergreifende Handlungsstränge gibt, pro Folge immer einen klar umrissenen ‚Konflikt der Woche‘ gibt und die Geschichte sich manchmal im Schneckentempo voranbewegt. Dieser Bruch markiert auch den Punkt, in dem Macher bemerkten, dass sie mit „Narcos“ wirklich eine Serie haben, die sie über mehrere Staffeln weitererzählen können.

Die erste Staffel von „Narcos“ ist furioses Fernsehen, das immer wieder wie eine Bebilderung von Don Winslows Südamerika-Romanen „Tage der Toten“ und „Das Kartell“ wirkt. Immerhin behandeln die Serie und die Romane den gleichen Krieg aus der nord- und südamerikanischen Perspektive und sie stellen in ihrer Jahrzehnte umspannenden Chronik nüchtern das vollständige Scheitern des von Präsident Nixon groß angekündigten „war on drugs“ fest: der Drogenkonsum nahm zu, die Preise stagnierten, die Gewalt eskalierte.

Die ersten beiden Folgen wurden von José Padilha, dem Regisseur von „Tropa de Elite“ und „Robocop“, inszeniert. Er legte damit den Grundton und das Erzählprinzip, das er „’Goodfellas‘ mit Archivmaterial“ nennt, fest. Für ihn war, wie er im Bonusmaterial erzählt, nur Wagner Moura, mit dem er bereits mehrfach zusammenarbeitete, als Pablo Escobar vorstellbar. Und Moura, der für die Rolle spanisch lernte, überzeugt als Escobar restlos.

Daher ist es auch sehr lobenswert, dass auch in der deutschen Synchronisation das Prinzip der Zweisprachigkeit beibehalten wurde und die Charaktere in ihrer Muttersprache, also englisch (bzw. deutsch) oder spanisch, sprechen. Für Netflix war diese Zweisprachigkeit nie ein Problem und auch aus ökonomischer Perspektive sogar erwünscht. Denn der spanischsprechende Markt ist groß. Der Wechsel zwischen den verschiedenen Sprachen trägt auch zum Realismus der Serie bei.

Ein Problem der Serie ist allerdings, dass gerade bei den ersten acht Episoden die einzelnen Charaktere kaum ein Eigenleben entwickeln können, weil in einem atemlosen Reportage-Stil durch die Jahre gehetzt werden muss.

Ein anderes Problem ist, dass wirklich kein Charakter zur Identifikation einlädt. Letztendlich sind alle Arschlöcher, die, wenn es ihren Zielen dient, Gesetze brechen und Moral für eine Nebensache halten. Auch DEA-Agent Murphy macht da in der Serie eine Entwicklung durch. Sie ist am Ende der achten Episode, die den Kreis zur ersten Episode schließt, abgeschlossen.

Das Bonusmaterial ist mit drei Audiokommentaren, den Featurettes „The Colombian Connection“, „Establishing the Route“ und „The Language Barrier“ (insgesamt 45 Minuten) und knapp acht Minuten „Deleted Scenes“ durchaus umfangreich ausgefallen. Die informativen Featurettes konzentrieren sich auf die Serie und liefern Hintergründe zum Dreh vor Ort und der Zusammenarbeit mit Netflix. Allerdings wurde, aus was für idiotischen Gründen auch immer, durchgehend darauf verzichtet, die Namen und Funktionen der Interviewten einzublenden. So muss man sich während des Gesprächs zusammenreimen, wer spricht. Bei einigen findet man es nie heraus.

Narconomics – Ein Drogenkartell erfolgreich führen“ von „Economist“-Journalist Tom Wainwright ist eine gute Ergänzung zu „Narcos“. Der ab 2010 jahrelang über Mittelamerika und die umliegenden Länder berichtende Journalist wagt eine aktuelle Bestandsaufnahme des Kampfes gegen die Drogen in Südamerika und den USA. Mit minimalen Ausflügen in andere Länder. In seinem Sachbuch zeichnet er den Weg der Drogen vom Anbau bis zum Verkauf an den Endkonsumenten nach. Dabei verbindet er Vor-Ort-Recherche mit umfassenderen Analysen und betrachtet das Drogengeschäft aus ökonomischer Perspektive. Also so, als wäre das Drogengeschäft ein ganz normales Geschäft, das sich von legalen Geschäften nur durch die beiden Buchstaben „i“ und „l“ unterscheidet. Mit dieser, zugegeben nicht besonders neuen Betrachtungsweise, die er auf die gesamte Lieferkette anwendet, führt er zu einer teilweise neuen Sicht des Drogengeschäftes und den damit zusammenhängenden Probleme, wie Kriminalität, zweifelhafte Produktqualität und den Kosten der Bekämpfung. Denn der gesamte, inzwischen seit Jahrzehnten geführte Kampf gegen die Drogen führte nicht zum Ziel. Im Gegenteil: es wird mehr konsumiert und der Straßenpreis (vulgo Endkundenpreis) für Drogen steigt nicht. Dagegen steigen, egal ob man sich nur auf die direkten oder auch die indirekten Kosten konzentriert, die Kosten der Bekämpfung.

Aus dem ökonomischen Blickwinkel wird auch deutlich, an welchen Punkten der Lieferkette man am besten eingreift: an der Grenze zur USA oder ziemlich direkt bei den Endkonsumenten. Dort ist das Produkt am teuersten. Der ökonomische Verlust für die Kartelle ist dort am höchsten.

Aus dem ökonomischen Blickwinkel wird auch deutlich, wie hoch die Kosten des erfolglosen Kampfes gegen die Drogen sind – und warum man die bisherige Politik ändern sollte. Folgerichtig fordert Wainwright ein Ende der Drogenprohibition, weil ein Verbot bei Drogen, wenn die Menschen sie konsumieren wollen, noch nie funktionierte. Das hatten die US-Amerikaner während der Alkoholprohibition schon erfahren müssen.

Eine überlegte Freigabe, Qualitätskontrolle, Besteuerung, vorausschauende Sozialpolitik, auch ein Umsteuern beim Umgang mit Inhaftierten (damit Gefängnisse nicht weiterhin Rekrutierungsorte für die Kartelle bleiben) und eine Produktion vor Ort würden vieles ändern. Der zunehmende Drogenhandel über das Internet hat schon jetzt, wie auch im normalen Handel, einiges geändert, weil die Vergleichsmöglichkeiten über die Qualität und den Preis des Produktes zunahmen. Außerdem war es noch nie wirklich sexy, aber abenteuerlich, sich in dunklen Gassen seinen Stoff zu besorgen.

Der Kollateralschaden einer solchen Politik wäre natürlich ein Ende Serien wie „Narcos“. Denn wer will schon normalen Kaufleuten bei ihrer stinklangweiligen Arbeit zusehen?

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Narcos – Die komplette erste Staffel (Narcos, USA 2015)

Regie: José Padilha, Guillermo Navarro, Andi Balz, Fernando Coimbra

Drehbuch: Chris Brancato, Carlo Bernard, Doug Miro, Dana Calvo, Dana Ledoux Miller, Andy Black, Zach Calig, Allison Abner, Nick Schenk

Erfinder: Carlo Bernard, Chris Brancato, Doug Miro

mit Wagner Moura (Pablo Escobar), Boyd Holbrook (Steve Murphy), Pedro Pascal (Javier Peña), Paulina Gaitan (Tata Escobar), Juan Murcia (Juan Pablo Escobar), Raúl Méndez (César Gaviria), Jorge Monterrosa (Trujillo), Paulina García (Hermilda Gaviria), Diego Cataño (La Quica), Julián Díaz (Blackie), Joanna Christie (Connie Murphy), Danielle Kennedy (Botschafterin Noonan), Luis Guzmán (José Rodríguez Gacha)

DVD

Polyband

Bild: 1,78:1 (16:9)

Ton: Deutsch, Englisch/Spanisch (Dolby Digital 5.1)

Untertitel: Deutsch

Bonusmaterial: Making-of, Interviews mit Cast & Crew, Deleted Scenes, Audiokommentare

Länge: 500 Minuten (4 DVDs)

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Narcos“

Wikipedia über „Narcos“ (deutsch, englisch) und Pablo Escobar (deutsch, englisch)

Narconomics von Tom Wainwright

Tom Wainwright: Narconomics – Ein Drogenkartell erfolgreich führen

(übersetzt von Henning Dedekind)

Blessing, 2016

352 Seiten

19,99 Euro

Originalausgabe

How to run a Drug Cartel

PublicAffairs, Perseus Book Group, New York, 2016

Bonushinweis

Wer zwischen der Realität und „Narcos“ vergleichen will, sollte sich James Mollisons „Escobar – Der Drogenbaron“ beschaffen. In der reich bebilderten Biographie kann man in die damalige Zeit eintauchen.

Mollison - Escobar - Der Drogenbaron

James Mollison (mit Rainbow Nelson): Escobar – Der Drogenbaron

(übersetzt von Simone Salitter und Gunter Blank)

Heyne Hardcore, 2010

416 Seiten

16 Euro

Originalausgabe

The Memory of Pablo Escobar

Chris Boot Ltd., London 2007

 

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