„Fieber in Casablanca“, weil 1955 eine Europäerin vergewaltigt wurde

Als „Fieber in Casablanca“ 1983 in Frankreich erschien, war die Kolonialzeit noch viel gegenwärtiger. Heute empfiehlt sich wahrscheinlich ein erklärendes Nachwort, das leider in der vom Autor überarbeiteten Neuausgabe von „Fieber in Casablanca“ fehlt.

In dem Roman erzählt Tito Topin, selbst gebürtiger, seit 1966 in Frankreich lebender Marokkaner, von einigen aufregenden Stunden in Casablanca im Juli 1955. Kurz vor der Unabhängigkeit war Casablanca eine Metropole mit einem pulsierenden Kultur- und Nachtleben. So schildert es jedenfalls Topin, der damals als Anfang-Zwanzigjähriger dort lebte.

Eines Nachts vergewaltigt der Möchtegern-Playboy Georges Bellanger die fast neunzehnjährige Spanierin Ginette ‚Gin‘ Garcia. Sie landet schwerverletzt im Krankenhaus.

Für die Polizei ist schnell klar, wer für die Tat verantwortlich sein soll. Immerhin befiehlt der Zivilgouverneur Commissaire Guglielmi, wie er zu ermitteln hat: „Stellen Sie die junge Frau wie ein Model der Tugend hin. Machen Sie eine Jungfrau, ja, eine Heilige aus ihr! Und, selbstredend, finden Sie mir einen oder mehrere Schuldige unter den Drecksarabern, am besten unter den Einwohnern der Siedlung Embarek. (…) Ich will einen Schuldigen! Wen auch immer, Hauptsache Araber! Da wird kein Europäer rein verwickelt.“

Entsprechend unobjektiv gestalten sich die Ermittlungen der Polizei. Währenddessen lässt Georges Mutter, Dr. Bellanger, Gin in ihr Krankenhaus verlegen.

Gins Freund Manu sucht auf eigene Faust den Täter und weil das alles in den letzten Tagen vor der Unabhängigkeit spielt, lässt die Kolonialmacht Frankreich noch einmal ihre Muskeln spielen.

Fieber in Casablanca“ ist ein flotter Noir, in dem vor allem das Chaos regiert. Topin erzählt das in mehreren Erzählsträngen, die sich schnell abwechseln und die Handlung, auch dank der knappen, lakonischen, mit schwarzem Humor gewürzten Sprache unerbittlich zu ihrem explosiven Ende treiben.

Casablanca erscheint als Moloch in dem Korruption und Rassenhass Alltag sind. Gleichzeitig gibt es ein lebhaftes Nachtleben und in den Kinos laufen anscheinend nur die damals angesagten Filmklassiker.

Die Charaktere selbst bleiben eher blass. Auf knapp zweihundert mit Handlunge gefüllten Seiten ist eben wenig Zeit für psychologische Vertiefungen. In den eilig vorangetriebenen Szenen aus dem Chaos einer Strafverfolgung entsteht ein ziemliches unschönes Bild der letzten Tage einer Kolonialmacht. Sie sucht nicht den wahren Täter, sondern den gerade passenden Täter. Das erinnert dann schon fast an die Ermittlungen der deutschen Polizei bei den NSU-Morden. Folter ist akzeptiert, solange sie nicht zu laut ist. Denn: „Wir verhören sie nicht, damit sie reden, wir verhören sie, um ihnen zu zeigen, wer hier das Sagen hat!…Und das geht sehr gut ohne Lärm.“ Und eine Vergewaltigung an einer Europäerin dient als Vorwand für einen Feldzug gegen Araber. Das wäre dann schon fast wieder brennend aktuell, wenn Topin eine Analyse der damaligen Zustände gewollt hätte. Die gibt es zwar auch. Als Nebenprodukt einer bitterbösen Beschreibung eines Kessels kurz vor der Explosion.

Topins Roman wurde mit dem „Prix Mystère de la Critique“ ausgezeichnet.

Für seine anderen Romane, die teilweise auch ins Deutsche übersetzt wurden, erhielt er weitere Preise. Außerdem erfand Topin die langlebige TV-Krimiserie „Navarro“.

Tito Topin: Fieber in Casablanca

(übersetzt von Katarina Grän)

Distel Literaturverlag, 2017

216 Seiten

14,80 Euro

Vom Autor überarbeitete Fassung.

Originalausgabe

55 de fièvre

Éditions Gallimard, Paris, 1983

Deutsche Erstausgabe

Casablanca im Fieber

Edition Tiamat, Berlin, 1992

Hinweise
Homepage von Tito Topin
Distel Literaturverlag über Tito Topin
Wikipedia über Tito Topin
Perlentaucher über Tito Topin

Meine Besprechung von Tito Topins „Exodus aus Libyen“ (Libyan Exodus, 2013)

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