In Tokio sehen Osamu Shibata und sein Sohn Shota auf ihrem Heimweg ein Mädchen, das sie von ihrem Balkon beobachtet. Spontan beschließen sie, das verwahrloste Kind mitzunehmen. Zunächst nur für eine warme Mahlzeit. Als sie Spuren häuslicher Gewalt an ihr entdecken, darf Yuri bei ihnen bleiben. Schließlich sei es keine Entführung, wenn Yuri jederzeit zu ihren Eltern zurückkehren könne. Bis dahin nehmen die Shibatas Yuri als weiteres Familienmitglied bei sich auf. Sie haben zwar wenig Platz in ihrer Hütte, in der auch noch Osamus Frau, eine Halbschwester und eine Großmutter leben. Aber sie lieben sich gegenseitig und spenden sich die Wärme, die man hofft, in einer Familie zu finden.
Da übersieht man auch gerne, dass Osamu und Shota, bevor sie Yuri mitnahmen, im Supermarkt ihr Abendessen klauten.
Auch später versucht man die kleinen Irritationen, die zeigen, dass die Shibata-Familie keine normale Familie ist, zu ignorieren. Denn die Shibatas sind keine Blutsverwandte, sondern, das wird schnell deutlich, Seelenverwandte, die unter widrigen Umständen eine heile Familie schufen. Jedenfalls auf der emotionalen Ebene.
Was ist eine Familie? Mit dieser Frage beschäftigte sich Hirokazu Kore-eda bereits in seinen früheren Filmen, wie „Like Father, like Son“ und „Unsere kleine Schwester“. Wieder zeigt er, dass eine glückliche Familie nichts mit Verwandtschaftsbeziehungen zu tun hat, sondern dass Familien durch Zufälle und Wahl entstehen. So sind die Shibatas auf der emotionalen Ebene eine vorbildliche Familie; auf jeder anderen Ebene eine Verbrecherfamilie. Und doch möchte man am Ende des wunderschönen Films und nachdem man alle Verbrechen der Shibatas kennt, seine Kinder Osamu und seiner Frau Nobuyo immer noch in Obhut geben. Ja, man möchte sogar selbst ein Teil der Shibata-Familie sein.
Das liegt an Hirokazu Kore-edas Blick auf seine Figuren. Er beobachtet die einzelnen Familienmitglieder mit einem immer sympathisch zugewandten Blick. Er vermeidet augenscheinliche Dramatisierungen. Sehr subtil legt er die verschiedenen Schichten der Beziehungen zwischen den Shibatas offen. Er liebt seine Figuren, die er mit einer spürbaren Wärme im Blick behält, während er nebenbei Missstände in der japanischen Gesellschaft anspricht. Das ist große Kunst.
„Shoplifters“ ist ein stiller Film, der in Cannes die Goldene Palme erhielt. Vor wenigen Wochen reichte Japan Kore-edas Drama für den Auslands-Oscar ein. Aktuell steht „Shoplifters“, neben einigen anderen sehr preiswürdigen Filmen, auf der Shortlist. Außerdem ist er, neben zahlreichen anderen Nominierungen, für den Golden Globe nominiert.
Shoplifters – Familienbande (Manbiki Kazoku, Japan 2018)
Regie: Hirokazu Kore-eda
Drehbuch: Hirokazu Kore-eda
mit Lily Franky, Sakura Ando, Mayu Matsuoka, Kilin Kiki, Kairi Jyo, Miyu Sasaki
Länge: 121 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Rotten Tomatoes über „Shoplifters“
Wikipedia über „Shoplifters“ (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von Hirokazu Kore-edas „Unsere kleine Schwester“ (Umimachi Diary, Japan 2015)