Aus dem Archiv: Meine Besprechung von John le Carrés „Marionetten“ (A most wanted man)

Wie die Zeit vergeht. Nachdem die Berliner Literaturkritik (eigentlich müsste man sie irgendwie wiederbeleben) in den letzten Jahren inaktiv war, soll sie im Mai 2020 offline gehen.

Zeit also, mal in meinen alten Texten zu stöbern und einige der alten Besprechungen in der Kriminalakte abzulegen. Bevorzugt von Büchern, die immer noch gut erhältlich sind oder die wichtig sind oder aus irgendeinem anderen nichtigen Grund.

Zur heutigen TV-Premiere von „A most wanted man“ gibt es daher meine Besprechung von John le Carrés Roman:

Der dreiundzwanzigjährige muslimische Tschetschene Issa Karpow reist als Flüchtling über Stockholm in die Europäische Union ein. Sein Ziel ist Hamburg. Dort findet er bei einer gastfreundlichen türkischen Familie Unterschlupf. Issa möchte Arzt werden. Dafür nimmt er über die Fluchthafen-Anwältin Annabel Richter Kontakt mit dem schottischen Privatbankier Tommy Brue auf. Er soll ihm helfen. Denn Issa ist der Sohn eines verstorbenen russischen Mafiosi und er hat den Schlüssel zu einem Geldwäsche-Konto. Aber er will nicht das Geld, sondern Schutz.

Während Brue und Richter versuchen, Issa zur Annahme des Vermögens zu bewegen, werden sie vom deutschen Geheimdienst, unter der Leitung von Günther Bachmann, und einigen anderen, nicht immer unbedingt deutschen Organisationen, beobachtet. Denn für die Geheimdienste ist der mit einem internationalen Haftbefehl gesuchte Issa Karpow kein harmloser Flüchtling, sondern ein bereits mehrmals aus der Haft ausgebrochener gefährlicher Terrorist.

Dass ihre Beweise eher dünn sind und dass es immer wieder Indizien gibt, die auf die Harmlosigkeit von Issa Karpow hinweisen, stört die Geheimdienstler nicht. Denn der „Most wanted man“, so der Originaltitel, ist, wie alle Charaktere in dem Roman am Ende nur eine „Marionette“, der seine Rolle als Bauer in einem größeren Plan des deutschen Geheimdienstes, in Absprache mit befreundeten Geheimdiensten, spielen soll.

In „Marionetten“ schreibt John le Carré über die Geheimdienste nach dem 11. September und ist dabei wieder in der Welt, in der er sich am Besten auskennt. Während die Geheimdienste sich nach dem Ende des Kalten Krieges neu orientieren mussten, schrieb John le Carré mehrere Rückblicke auf den Kalten Krieg und wandte sich verschiedenen Themen, wie internationaler Waffenhandel, Medikamententests in Afrika und dem internationalen Finanzmarkt, zu. Beide wurden von dem Al-Kaida-Attentat am 11. September 2001 und dem damit verbundenen Aufstieg des islamistischen Terrorismus als internationalem Phänomen überrascht. Die westlichen Geheimdienste fanden schnell zu ihrem vertrauten Repertoire, Folter und Verschleppungen, mit einem anderen Gegner, zurück. Nur handelt der islamistische Terrorismus als Graswurzelbewegung nicht so vernünftig wie der sowjetische Geheimdienst. Es ist ein asymmetrischer Krieg.

Aber John le Carré schreibt nicht über die Unterschiede zwischen dem alten und dem neuen Gegner des Westens. Darüber soll der Leser selbst nachdenken. Er erzählt in „Marionetten“ nur von einer kleinen Operation des Geheimdienstes und macht so die Gegenwart in einer spannenden Geschichte begreifbarer als in seinen vorherigen Romanen.

Denn nachdem seine letzten Werke immer wieder an einer schwachen Geschichte (siehe „Absolute Freunde“ und „Geheime Melodie“), zu einfältigen Charakteren (dito, aber vor allem „Geheime Melodie“) und einem zunehmend belehrendem Tonfall (wieder „Geheime Melodie“ und „Der ewige Gärtner“) litten, macht er dieses Mal wieder alles richtig.

John le Carré breitet das Drama gemächlich bis zu dem alle vorherigen Bemühungen des deutschen Geheimdienstes ad absurdum führendem Ende aus. Dieses Ende ist überraschend, aber zuerst auch enttäuschend. Doch letztendlich ist es folgerichtig und beendet die Aktion des deutschen Geheimdienstlers Bachmann mit einer bitteren Pointe.

John le Carré: Marionetten

(aus dem Englischen von Sabine Roth und Regina Rawlinson)

Ullstein, Berlin 2008

368 Seiten

22,90 Euro (gebundene Ausgabe)

9,99 Euro (Taschenbuch)

Originalausgabe

A most wanted man

Hodder & Stoughton, London 2008

Hinweise

Wikipedia über John le Carré (deutsch, englisch)

Homepage von John le Carré

Meine Besprechung von John le Carrés „Geheime Melodie“ (The Mission Song, 2006)

Meine Besprechung von John le Carrés “Marionetten (A most wanted man, 2008)

Meine Besprechung von John le Carrés “Verräter wie wir” (Our kind of traitor, 2010)

Meine Besprechung von John le Carrés “Empfindliche Wahrheit” (A delicate truth, 2013)

Meine Besprechung von John le Carrés „Das Vermächtnis der Spione“ (A Legacy of Spies, 2017)

Meine Besprechung der John-le-Carré-Verfilmung “Bube, Dame, König, Spion” (Tinker, Tailor, Soldier, Spy, Großbritannien/Frankreich/Deutschland 2011)

Meine Besprechung der John-le-Carré-Verfilmung “A most wanted man” (A most wanted man, Deutschland/Großbritannien 2014) und der DVD

Meine Besprechung der John-le-Carré-Verfilmung „Verräter wie wir“ (Our Kind of Traitor, Großbritannien 2016)

Meine Besprechung der ersten beiden Episoden von Susanne Biers „The Night Manager“ (The Night Manager, Großbritannien/USA 2016) und der gesamten Miniserie

John le Carré in der Kriminalakte

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