Neu im Kino/Filmkritik: In Sean Bakers „Red Rocket“ will ein Pornostar durchstarten

Sean Baker, der Regisseur der grandiosen Filme „Tangerine L. A.“ und „The Florida Project“, ist zurück und er bleibt sich treu. Mit unbekannten Schauspielern und spontan engagierten Laien drehte er vor Ort. Und wieder spielt die Geschichte in einem Milieu, das so selten im Kino gezeigt wird.

Dieses Mal dreht sich alles um Mikey Saber. Der 41-jährige kehrt aus Hollywood zurück in seine alte Heimatstadt, die er niemals wieder besuchen wollte. In Hollywood war er ein Filmstar. In Pornos. Jetzt hat er in der Stadt der Träume so massive Geldprobleme, dass er sich gerade so ein Busticket leisten konnte. In Texas City, einer Hafenstadt an der Golfküste mit Ölraffinerien in der Sichtweite vom Haus seiner Frau, klopft er bei seiner Immer-noch-Ehefrau Lexi an die Tür.

Dort ist er ungefähr so willkommen wie ein Tripper.

Trotzdem darf er bei ihr und ihrer Mutter, die beide in der heruntergekommenen und versifften Hütte hausen (die Bretterbude ging bei uns noch nicht einmal als Gartenhaus ohne Wohnzweck durch), wohnen. Zunächst nur für einige Tage, die dann zu Wochen werden.

Er sucht eine Arbeit. Weil er viele Jahre in der Pornobranche arbeitete und er diese Jahre in seinem Lebenslauf verschweigt, klafft eine jahrelange Lücke in ihm. Diese versucht er meist erfolglos mit seinem Charme zu füllen. Er hängt im Donut Hole ab. Der in Sichtweite der Raffinerien liegende Laden heißt wirklich so und musste für den Film nicht umbenannt werden. Dort scharwenzelt er um die siebzehnjährige Bedienung Strawberry herum. Er fantasiert ihr gegenüber etwas von einer großen Chance in Hollywood, die sie mit ihm hätte, während er ziemlich eindeutig mit ihr Sex haben möchte. Er beginnt mit Drogen zu handeln. Für diese Arbeit braucht der immer großspurig-optimistische Sonnyboy keinen lückenlosen Lebenslauf.

Und er hat ein Talent, seine Probleme zielsicher zu vergrößern.

Daher ist, wenn er am Filmanfang den Bus verlässt, klar, in welche Richtung sich seine Rückkehr in seine alte Heimat entwickeln wird.

Und trotzdem fühlen wir mit diesem großmäuligen Unsympath. Das liegt an Simon Rex, der den Blender Mikey Saber als einen Mann spielt, der letztendlich immer noch ein die Wirklichkeit ignorierendes, an den amerikanischen Traum glaubendes Kind ist. Für Rex ist die Rolle dieses Schmarotzers, nachdem er schon seit den Neunzigern in Filmen und TV-Serien auftritt, der Durchbruch. Bis jetzt ist er als Schauspieler vor allem durch mehrere „Scary Movie“-Komödien bekannt. Außerdem ist er der Rapper ‚Dirt Nasty‘.

Sean Baker erzählt seine Schwarze Komödie mit spürbarer Sympathie für Saber und die Menschen, die er in Texas City trifft. Er verschließt aber nie die Augen vor ihren Defiziten und ihren prekären Lebensumständen, die mit ‚ärmlich‘ noch zu positiv beschrieben sind.

Er drehte „Red Rocket“, wie seine vorherigen Filme, mit einem geringem Budget, einer kleinen Kerncrew von weniger als zehn Leuten, vor Ort mit vielen Laiendarstellern und Zufallsentdeckungen. Die Dreharbeiten waren, während der Coronavirus-Pandemie, in Texas City an 23 Tagen im Herbst 2020. Spielen tut der Film im Sommer 2016, vor der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA, der ein Bruder im Geist von Saber ist. Beiden gelingt es, andere Menschen zu verführen (wobei ich Trump schon immer für einen talent- und charmefreien Hohlkopf hielt) und in ihren Bannkreis zu ziehen. Beiden sind andere Menschen und ihre Gefühle egal. Schließlich gibt es für sie nur eine wichtige Person im Universum.

Witzig aus europäischer Sicht ist die auch in „Red Rocket“ sichtbare US-amerikanische Prüderie. So gibt es zwar für einen US-Film viel nackte Haut zu sehen, aber den früheren Pornostar Mikey Saber sehen wir nur einmal nackt. Das macht die sehenswerte Komödie jetzt nicht besser oder schlechter, aber es verrät einiges über die US-Gesellschaft.

Red Rocket (Red Rocket, USA 2021)

Regie: Sean Baker

Drehbuch: Sean Baker, Chris Bergoch

mit Simon Rex, Bree Elrod, Suzanna Son, Brenda Deiss, Judy Hill, Brittney Rodriguez, Ethan Darbone, Shih-Ching Tsou, Parker Bigham

Länge: 131 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Red Rocket“

Metacritic über „Red Rocket“

Rotten Tomatoes über „Red Rocket“

Wikipedia über „Red Rocket“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Sean Bakers „Tangerine L. A.“ (Tangerine, USA 2015)

Meine Besprechung von Sean Bakers „The Florida Project“ (The Florida Project, USA 2017)

Die Pressekonferenz in Cannes nach der Weltpremiere des Werkes

Eine Fragestunde mit Sean Baker und Teammitgliedern zum Film in Austin

 

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