Neu im Kino/Filmkritik: „The Outfit – Verbrechen nach Maß“ ist Noir-Maßarbeit

Das ist ein Film für die Freunde eines gut gemachten Noirs, die einfach Vertrautes in einer durchaus vertrauten Umgebung mit ein, zwei kleinen Variationen wieder sehen wollen. Damit ähnelt er Steven Soderberghs „No sudden Move“ – und ist doch vollkommen anders.

Die von Graham Moore („The Imitation Game“) zusammen mit Johnathan McLean geschriebene und von Moore verfilmte Geschichte spielt, nach einer kurzen Einführung der Hauptfigur, 1956 in Chicago in einer Winternacht in einer kleinen Herrenschneiderei im Ladengeschäft, wo die Anzüge verkauft werden, und im Hinterzimmer, wo Leonard Burling (Sir Mark Rylance) die Anzüge schneidert. Der Engländer ist ein Meister, der mühelos in der Londoner Savile Row als Maßschneider für die oberen Zehntausend arbeiten könnte. Stattdessen lebt der ruhige, introvertierte ältere Mann, der anscheinend nur Augen für seine Arbeit hat, unauffällig in Chicago. Sein Geschäft ist ein kleiner, unauffälliger Eckladen in einer der schlechteren Gegenden der Stadt.

Auffällig ist hier nur die Kundschaft, die erkennbar zum Organisierten Verbrechen (oder, wie es damals auch hieß, der ‚Mafia‘, dem ‚Mob‘ oder dem ‚Outfit‘) gehört. Diese Verbrecher sind alle Kunden von Leonard. Und sie benutzen einen Briefkasten in Leonards Arbeitszimmer, in den sie täglich Briefe stecken, deren Inhalt die Polizei und das FBI sehr interessieren würde. In letzter Zeit gibt es in dem Briefkasten vermehrt Briefe mit einer besonderen Kennzeichnung auf dem Umschlag.

In einer Nacht gerät dann Leonards geordnetes Leben aus den Fugen. Richie Boyle wurde von Mitgliedern der konkurrienden LaFontaine-Verbrecherfamilie angeschossen. Er kann aus den üblichen Verbrechergründen nicht in ein Krankenhaus gebracht werden. Sein Vater Roy Boyle leitet die Boyle-Verbrecherfamilie. Boyles rechte Hand Francis hofft, irgendwann das Syndikat (noch ein Name für das Organisierte Verbrechen) zu übernehmen. Bis dahin ist er ein Handlanger, der Richie begleitet und beschützen soll. Deshalb bringt er Richie jetzt in Leonards Schneiderei. Leonard soll den von der Polizei verfolgten Richie die nächsten Stunden verstecken und die Wunde versorgen. Denn wer einen Anzug schneidern kann, kann auch eine Wunde nähen. Außerdem soll Leonard auf einen Koffer und ein Tonband aufpassen.

Gleichzeitig sucht Francis den Verräter in den eigenen Reihen; – während die beiden Verbrecherfamilien sich weiter bekriegen und die Polizei sie sucht.

Moore lässt die gesamte Geschichte in einem Geschäft in zwei Räumen spielen und, wie es sich für einen guten Krimi gehört, ist der gesuchte Verräter eine Person, die zu irgendeinem Zeitpunkt des Films, in der Schneiderei ist. Außerdem, auch das gehört zu einem guten Krimi dazu, hat hier jeder seine Geheimnisse und ist nicht ganz ehrlich. Bei den Chicagoer Gangstern gehört das zur Berufsbeschreibung, bei einem Schneider und seiner Assistentin nicht unbedingt.

Diese Geschichte der unruhigen Nacht in Leonards Geschäft bedient, wie gesagt, vertraute Genrekonventionen von tödlichem Mißtrauen, Verrat und Gegenverrat, die leicht variiert werden. Schließlich kennen wir die Verbrecher und ihre Probleme aus zahlreichen anderen Filmen und Bücher, mal mehr, mal weniger fiktional. Auch die junge, gutaussehende Assistentin, die Leonards Mädchen für alles ist und am Eingang die Stellung hält und die Kunden bedient, ist aus anderen Filmen als Nebenfigur bekannt. Gänzlich unbekannt ist dagegen die von Mark Rylance gewohnt überzeugend gespielte Figur des noblen Herrenschneiders. Er ist ein Beobachter, der sich aus allem heraushalten will und Schneider gehören zu den in Filmen höchst selten porträtierten Figuren. Wahrscheinlich deshalb zeigt Moore auch ausführlich, wie ein Anzug entsteht.

Die große Überraschung am Filmende dürfte niemand überraschen und die Filmgeschichte wird dadurch im Nachhinein sogar ziemlich unlogisch. Bis dahin gibt es eine hübsch vertrackte Verrätersuche in einem Hinterzimmer/Arbeitszimmer und einen heraufziehenden Gangsterkrieg.

Das erzählt Moore in seinem Spielfilmdebüt betont altmodisch und damit ohne Zeitgeist-Spielereien, ohne Tarantino-Gewaltexzesse (obwohl diese Zeit, als jeder Gangsterfilm Tarantino kopierte, auch schon wieder über zwanzig Jahre her ist) oder andere Gewaltexzesse, die in den letzten Jahren auch blutige CGI-Exzesse wurden, und ohne ironische Spielereien mit Metaebenen und der Form, die durchaus vergnüglich sind, aber auch zeigen, dass der Film neueren Datums ist und eine Revision der altbekannten Regeln sein will. „The Outfit“ will alles das nicht sein.

The Outfit“ ist feines Schauspielerkino, präzise und elegant inszeniert und äußerst traditionsbewußt. Er sieht wie ein zu Unrecht vergessener Noir aus den fünfziger Jahren aus. Allein das sollte schon ausreichen, um Noir-Fans ins Kino zu locken. Außerdem kann man auf der großen Kinoleinwand die kleinen Gesten und Blicke der grandiosen Schauspieler und den gelungenen Bildaufbau und Schnitt dieses Kammerspiels, das ganz großes Kino ist, wirklich genießen.

P. S.: Schönes Retro-Plakat.

The Outfit – Verbrechen nach Maß (The Outfit, USA 2021)

Regie: Graham Moore

Drehbuch: Graham Moore, Johnathan McClain

mit Mark Rylance, Dylan O’Brien, Johnny Flynn, Zoe Deutch, Simon Russell Beale, Alan Mehdizadeh, Nikki Amuka-Bird

Länge: 106 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „The Outfit“

Metacritic über „The Outfit“

Rotten Tomatoes über „The Outfit“

Wikipedia über „The Outfit“ (deutsch, englisch)

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