In der südkoreanischen Hafenstadt Busan verunglückt ein Hobby-Bergsteiger tödlich bei einer Klettertour. Jang Hae-joon (Park Hae-il), der ermittelnde Kommissar, vermutet schnell einen Mord. Und er vermutet, dass die jüngere Frau des Toten, die Chinesin Song Seo-rae (Tang Wei), die Täterin ist. Allerdings hat sie ein ausgezeichnetes Alibi: zur Tatzeit pflegte sie als Krankenschwester eine ältere bettlägerige Frau und sie beantwortete einen Kontrollanruf auf dem Telefon der Patientin.
Schon bei ihrer ersten Begegnung herrscht zwischen ihnen diese seltsame Anziehungskraft, die bei Noir-Fans alle Warnglocken ertönen lässt. Trotzdem verliebt Jang sich in die geheimnisvolle Femme Fatale. Der an Schlaflosigkeit leidende Ermittler beginnt sie zu beobachten und durch die nächtliche Stadt zu verfolgen.
Seit seiner Premiere in Cannes, wo „Die Frau im Nebel“ den Preis für die beste Regie erhielt, wird Park Chan-wooks Neo-Noir überall abgefeiert. Er stand auf Jahresbestenlisten, wurde für wichtige Filmpreise nominiert, erhielt bislang auch einige Preise und er dürfte noch weitere Auszeichnungen erhalten.
Trotzdem kann ich die große Begeisterung nur teilweise nachvollziehen. Denn gerade für den Noir-Fan hat das langsam erzählte Krimidrama einige unübersehbare Schwächen. Die weitgehend – Park Chan-wook variiert natürlich ein wenig – bekannte Story ist es nicht. Es sind andere Dinge.
Doch beginnen wir mit dem Positiven. Park Chan-wook inszenierte seinen melancholischen Noir überaus elegant und atmosphärisch. Auch der verschachtelte Wechsel zwischen Zeitebenen, Realität und Fantasie gefällt am Anfang. In der zweiten Hälfte des Films wird dieser ständige Wechsel zunehmend verwirrend und weniger überzeugend verwandt. Sowieso ist diese Hälfte deutlich schlechter. Sie spielt ein Jahr nach dem ersten Mord. In dem Moment, also nach ungefähr achtzig Filmminuten, ist der Mord an dem Bergsteiger aufgeklärt. Jang weiß, dass Song die Mörderin ist und er könnte sie verhaften. Er tut es nicht, aber sie klären ihr Verhältnis zueinander – und der Film könnte zu Ende sein. Aber es geht weiter. Fast eine Stunde lang gibt es eine ermüdende Abfolge zufällger Ereignisse, wie einer zufälligen Begegnung auf einem Markt in Ipo, einem weiteren Mord, in den Song wieder verwickelt ist und in dem Jang wieder der Ermittler ist, arkane Ermittlungen mit einer neuen Partnerin und einem doch etwas umständlichem, ziemlich düsterem Ende. Auch für einen Noir.
Doch das Schicksal von dem obsessiv verliebtem Kommissar und der geheimnisvollen Mordverdächtigen berührt kaum. Ihre Gefühle und Motive bleiben eher verborgen. Das von Park Chan-wook entworfene Beziehungsgeflecht zwischen ihnen ist komplex, aber vor allem ein intellektuelles Spiel. Die elegant und auch gelungene Inszenierung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass einen diese Noir-Geschichte und die Leiden der Figuren emotional kalt lassen. Eben darum ist „Die Frau im Nebel“ definitiv nicht Park Chan-wooks bester Film.
Mit gut zweieinhalb Stunden ist „Die Frau im Nebel“ außerdem eindeutig zu lang. Früher hätte ein Hollywood-Regisseur diese Noir-Geschichte über einen ehrlichen Polizisten, der sich in die falsche Frau verliebt, und einer Femme Fatale, die an ihren Taten leidet, locker in neunzig Minuten erzählt.
Zu Park Chan-wooks früheren Filmen gehören „Joint Security Areas“, „Oldboy“, „Lady Vengeance“, „I’m a Cyborg, but that’s OK“, „Stoker“, „Die Taschendiebin“ und die John-le-Carré-Miniserie „Die Libelle“.
Die Frau im Nebel (Heojil Kyolshim, Decision to leave [internationaler Titel], Südkorea 2022)
Regie: Park Chan-wook
Drehbuch: Park Chan-wook
mit Tang Wei, Park Hae-il, Lee Jung-hyun, Go Kyung-pyo, Park Yong-woo, Jung Yi-seo
Länge: 138 Minuten
FSK: ab 16 Jahre
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Hinweise
Moviepilot über „Die Frau im Nebel“
Metacritic über „Die Frau im Nebel“
Rotten Tomatoes über „Die Frau im Nebel“
Wikipedia über „Die Frau im Nebel“ (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von Park Chan-wooks “Stoker” (Stoker, USA 2012)
Meine Besprechung von Park Chan-wooks „Die Taschendiebin“ (The Handmaiden, Südkorea 2016)