Neu im Kino/Filmkritik: „Tastenarbeiter – Alexander von Schlippenbach“, ein Porträt

Tastenarbeiter – was für ein deutsches Wort. Nicht Pianist oder Klavierspieler, sondern ein Tastenarbeiter ist Alexander von Schlippenbach. Das klingt nach harter, freudloser Arbeit in irgendeiner Maschinenhalle. Es hat einen teutonischen Beiklang, der Assoziationen an Maschinenlärm und Marschmusik weckt. Und nichts könnte bei Alexander von Schlippenbach falscher sein. Er ist nämlich einer der ganz großen Musiker des Free Jazz und damit auch des deutschen Free Jazz. Der am 7. April 1938 in Berlin geborene und immer noch dort (in meiner unmittelbaren Nachbarschaft) lebende Pianist ist vor allem bekannt für seine Kompositionen und Leitungen großer Free-Jazz-Orchester, namentlich das Globe Unity Orchestra und das Berlin Contemporary Jazz Orchestra. In beiden Großgruppen spielen und spielten die großen Improvisatoren des Free Jazz, wie Willem Breuker, Gunter Hampel, Steve Lacy, Albert Mangelsdorff, Evan Parker, Tomasz Stanko und Kenny Wheeler, mit. Während diese Free-Jazz-Bigband-Musik, wenn sie nicht in atonalen Krach versumpfen soll, schon immer nach vorstrukturierten Abläufen und der ordnenden Hand eines Dirigenten verlangte, frönt von Schlippenbach in kleineren Gruppen, unter anderem mit seiner Frau Aki Takase, das freie Spiel. Oder er nimmt einfach einmal das Gesamtwerk von Thelonious Monk neu auf.

Seit den frühen sechziger Jahren blieb er sich, wie zahlreiche Studio- und Live-Mitschnitte zeigen, musikalisch treu. Verbogen hat er sich nur am Klavier. Wobei auch dort, wenn man sich Bilder von ihm aus den Sechzigern und der Gegenwart ansieht, seine Haltung immer die gleiche blieb. Immer scheint er im Klavier zu versinken.

In seinem Porträt „Tastenarbeiter – Alexander von Schlippenbach“ zeigt Tilman Urbach den Künstler bei der Arbeit und, allein und mit musikalischen Weggefährten, in Erinnerungen schwelgen. Außerdem unterhielt Urbach sich mit Jost und Dagmar Gebers. Jost Gebers ist für das von ihm 1969 als Kollektiv mitgegründete und später geleitete Label FMP (Free Music Production) und das Total Music Meeting und der damit verbundenen jahrzehntelangen akribischen und umfassenden Dokumentation des deutschen (West- und Ostdeutschland), europäischen und weltweiten Free Jazz bekannt.

Tastenarbeiter“ ist ein liebevolles Porträt das von Schlippenbach in der Gegenwart zeigt und tief in die sechziger und siebziger Jahre eintaucht. Damals war improvisierte Musik immer auch eine Auseinandersetzung mit der Politik und der politischen Stimmung. Längere Ausschnitte aus Konzerten und Improvisationen mit verschiedenen Musikern in verschiedenen Studios runden das Porträt ab. Die ältesten Konzertausschnitte sind aus den sechziger Jahren.

Allerdings bleibt Urbach in seinem konventionell gemachtem Dokumentarfilm bei der Selbstbeschreibung der Musiker stehen. Sie reden über sich und die Musik, die sie damals und heute spielen. Es fehlt eine objektive Perspektive, die von Schlippenbachs Werk und Wirken in die Musikgeschichte einordnet.

Ärgerlich und rätselhaft ist Urbachs Verzicht auf Textinserts. Denn wer Urbachs Gesprächspartner nicht kennt, hat keine Ahnung, wer gerade redet, was er gemacht hat und warum er wichtig ist. Denn wer weiß schon, wie der am 15. September 2023 verstorbene Jost Gebers aussah?

Das sind für gestandene Jazzfans (und die sind eindeutig das Zielpublikum dieser Dokumentation) kleinere Mängel. Mit „Tastenarbeiter – Alexander von Schlippenbach“ dürfen sie sich sogar über die nächste gelungene Jazzdokumentation innerhalb weniger Wochen freuen, die nicht noch einmal einen der großen, allseits bekannten Stars abfeiert.

Tastenarbeiter – Alexander von Schlippenbach (Deutschland 2023)

Regie: Tilman Urbach

Drehbuch: Tilman Urbach

mit Alexander von Schlippenbach, Aki Takase, Günter „Baby“ Sommer, Manfred Schoof, Jost Gebers, Dagmar Gebers, Vincent von Schlippenbach (alias DJ Illvibe)

Länge: 106 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Tastenarbeiter – Alexander von Schlippenbach“

Moviepilot über „Tastenarbeiter – Alexander von Schlippenbach“

Wikipedia über Alexander von Schlippenbach (deutsch, englisch)

Homepage von Alexander von Schlippenbach

AllMusic über Alexander von Schlippenbach

Bonusmaterial: ein Konzert von Alexander von Schlippenbach (p) mit Evan Parker (sax) und Paul Lytton (dr), aufgenommen am 13. Dezember 2019 in Linz im C. Bechstein Centrum

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