
Leonardo Sciascias „Die Affaire Moro. Ein Roman“ erschien, nachdem es jahrelang nur antiquarisch erhältlich war, jüngst in einer Neuübersetzung mit viel Bonusmaterial. Der „Roman“ führt uns zurück in das chaotische Italien der siebziger Jahre, als die Regierungen täglich wechselten, aber immer die selben Männer regierten. Und der intellektuell gut unterfütterte Linksterrorismus Angst und Schrecken verbreitete. Am 16. März 1978 entführte die linke Terrorgruppe Rote Brigade (Brigate Rosse) den Abgeordneten Aldo Moro. Er war der Vorsitzende des Nationalrats der Democrazia Cristiana und einer der Männer, der den ‚Historischen Kompromiss‘ zwischen der Partito Comunista Italiano (PCI) und der Democrazia Cristiana (DC) ausgehandelt hatte. Wenige Tage vor seiner Entführung sprach Moro sich für eine Minderheitenregierung unter Führung seines DC-Parteigenossen Giulio Andreotti aus. Am Tag seiner Entführung wird Andreotti mit großer Mehrheit im Parlament bestätigt.
Die Entführung entwickelt sich zur Staatsaffäre, weil Moro aus seiner Gefangenschaft Briefe schreibt, die teils in Zeitungen gedruckt werden und in denen Moro um sein Leben fleht. Aber die Regierung weigert sich, mit den Entführern Verhandlungen über eine Freilassung Moros zu führen. Seine Briefe waren schon damals Briefe, die ein zum Tode Verurteilter schrieb.
Am 9. Mai 1978 wird in der Innenstadt Roms Moros Leiche im Kofferraum eines Renault 4 gefunden.
Bis heute sind nicht alle Hintergründe der Entführung und Ermordung Aldo Moros geklärt.
Leonardo Sciascia, ein schon damals seit Jahren bekannter Romanautor (mit angenehm kurzen Büchern über die Mafia, die Kirche, Korruption und ‚Italien‘) und, ab 1975, Abgeordneter für die Partito Comunista Italiano (PCI) und die Partito Radicale im Stadtrat von Palermo, im Abgeordnetenhaus und im Europaparlament, schrieb im Sommer 1978 „Die Affaire Moro“. Es ist eine Streitschrift, die er „Roman“ nannte, die aber besser als eine tiefgehende Textanalyse von Moros Briefen und weitergehenden Gedanken über die Stimmung in Italien und innerhalb der Regierung beschrieben werden kann.
Damals war „Die Affaire Moro“ eine unmittelbare politische Intervention, die sich an ein italienisches Publikum richtete. Heute ist sie ein schwer verständliches historisches Werk. Die Hintergründe von Moros Entführung, die Stimmung in Italien vor gut fünfzig Jahren und die Anspielungen sind heute nur noch wenigen Menschen bekannt. Entsprechend sinnvoll sind die Ergänzungen, die die Edition Converso abdruckte. Es sind eine Zeitleiste, der von Leonardo Sciascia vorgelegte Bericht der Parlamentarischen Minderheit und ein Nachwort von Fabio Stassi. Aber das ändert nichts daran, dass „Die Affaire Moro“ doch eher ein Buch für an der Nachkriegsgeschichte Italiens Interessierte und für Sciascia-Komplettisten ist.
Die können bei dieser Neuübersetzung, auch wegen des Bonusmaterials, bedenkenlos zugreifen.
Andere sollten ihr Sciascia-Fantum besser mit Sciascias auch erfolgreich verfilmten Mafia-Romanen wie „Der Tag der Eule“ (verfilmt als „Don Mariano weiß von nichts“), „Tote auf Bestellung“ (verfilmt als „Zwei Särge auf Bestellung“), „Tote Richter reden nicht“/“Der Zusammenhang“ (verfilmt als „Die Macht und ihr Preis“), „Todo modo oder das Spiel um die Macht“ und „Der Abbé als Fälscher“/“Das ägyptische Konzil“ (der wurde nicht verfilmt) beginnen.
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Leonardo Sciascia: Die Affaire Moro. Ein Roman
(übersetzt von Monika Lustig)
Edition Converso, 2023
240 Seiten
24 Euro
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Originalausgabe
L’Affaie Moro
Editions grasset & Pasquelle, 1978
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Hinweise
Perlentaucher über „Die Affaire Moro. Ein Roman“
Wikipedia über Leonardo Sciascia (deutsch, englisch, italienisch)
[…] Meine Besprechung von Leonardo Sciascias „Die Affaire Moro. Ein Roman“ (L’Affaie Moro, 1978) […]