Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: Über Michel Hazanavicius‘ Jean-Claude-Grumberg-Verfilmung „Das kostbarste aller Güter“

Es lebten einmal in einem großen Wald eine arme Holzfällersfrau und ein armer Holzfäller.

Nein, nein, nein, ganz gewiss handelt es sich hier nicht um den Däumling. (…) Wo oder wann hat es denn schon so etwas gegeben, dass Eltern ihre Kinder ausgesetzt haben, weil sie sie nicht ernähren konnten?“

Mit diesem Worten beginnt Jean-Claude Grumbachs „Das kostbarste aller Güter“, ein schmales Buch von 136 Seiten, das als Märchen, als Fabel und als Jugendbuch bezeichnet wird und das sich kunstvoll zwischen alle Stühle setzt. Jetzt wurde die Geschichte von „The Artist“-Regisseur Michel Hazanavicius, nach einem zusammen von ihm und Grumberg geschriebenem Drehbuch, als Animationsfilm verfilmt. In der Originalfassung ist Jean-Louis Trintignant, in der deutschen Fassung Jürgen Prochnow der Erzähler der Geschichte von dem Holzfällerpaar.

Diese spielt Anfang 1943 in Polen, wenige Kilometer vom Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Im Buch wird das auf den ersten Seiten verraten. Im Film wird erst im letzten Drittel wirklich deutlich, wann und wo die Geschichte spielt. Bei den Zuggleisen findet die arme alte Holzfällerfrau im Schnee ein Baby. Es wurde von seinem Vater aus dem Zug geworfen. Sie nimmt es mit nach Hause und beginnt es, gegen den anfänglichen Widerstand ihres Mannes, zu pflegen.

Während sie von Anfang an in dem Mädchen ein Geschenk Gottes sieht und es ohne Vorbehalte akzeptiert, lehnt er es anfangs ab. Er hält es für ein Wesen ohne Herz, das zu dem Stamm gehört, der Gott getötet hat. Aber er überprüft seine Vorurteile und verteidigt die Herzlosen vor seinen Arbeitskollegen.

Jean-Claude Grumberg, der 1939 in Paris geborene Autor der Buchvorlage, ist ein bekannter Theater- und Drehbuchautor. Immer wieder beschäftigt er sich mit seiner traumatischen Kindheit während des Zweiten Weltkriegs, der Nazi-Diktatur und dem Antisemitismus. Sein Vater, ein rumänischer Jude, wurde in Auschwitz ermordet. Zu Grumbergs Drehbüchern gehören „Die letzte Metro“ (Le Dernier Métro, 1980), „Die kleine Apokalypse“ (La petite apocalypse, 1992; seine erste Zusammenarbeit mit Costa-Gavras), „Der Stellvertreter“ (Amen, 2002) und „Die Axt“ (Le couperet, 2005).

Für die Verfilmung seines Märchens „Das kostbarste aller Güter“ veränderte er in dem zusammen mit Hazanavicius geschriebenem Drehbuch einige Details. Dummerweise sind die ursprünglich gewählten Lösungen besser. So ist im Film bis zum letzten Drittel unklar, wann und wo genau die Geschichte spielt. Mit den ersten Worten „Es lebten einmal in einem großen Wald eine arme Holzfällersfrau und ein armer Holzfäller.“ wird die Geschichte in das Reich der Märchen und Fabeln verwiesen. Alles verbleibt in einer zeitlich und örtlich nicht genau definierten Welt, die auch eine Fantasiewelt sein kann. Im Buch wird nach dem ersten Satz sehr schnell mehr über den Handlungsort und die -zeit gesagt. Es ist klar, dass die Züge zu einem Konzentrationslager fahren.

Auch das Ende ist im Buch dank seiner Kürze gelungener. Im Film verliert die Fabel mit dem Kriegsende ihren dramatischen Fokus. Das hindert Hazanavicius nicht daran, noch mehrere Minuten weiter zu erzählen, was in den Tagen und Jahren nach der Befreiung geschieht. Dabei dauert der Film ohne Abspann keine achtzig Minuten. Mit den drastischen Bilder aus und vor dem Konzentrationslager wird „Das kostbarste aller Güter“ in dem Moment zu einem Film, der eher ein erwachsenes Publikum anspricht.

Überzeugend ist im Buch und im Film die Darstellung des Lebens des Holzfällerpaares, wie sie sich um das von den ‚Göttern des Zuges‘ erhaltene Geschenk kümmert und wie er seine Haltung zu dem Baby verändert.

Das kostbarste aller Güter (La plus précieuse des marchandises, Frankreich 2024)

Regie: Michel Hazanavicius

Drehbuch: Jean-Claude Grumberg, Michel Hazanavicius

LV: Jean-Claude Grumberg: La plus précieuse des marchandises, 2019 (Das kostbarste aller Güter)

Länge: 81 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage

(nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2021 in der Kategorie „Nominierungen der Jugendjury“)

Jean-Claude Grumberg: Das kostbarste aller Güter – Ein Märchen

(übersetzt von Edmund Jacoby, mit Zeichnungen von Ulrike Möltgen)

Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2020

136 Seiten

16 Euro

Originalausgabe

La plus précieuse des marchandises. Un conte

Éditions du Seuil/Librairie du XXle siècle, Paris 2019

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Das kostbarste aller Güter“

AlloCiné über „Das kostbarste aller Güter“

Metacritic über „Das kostbarste aller Güter“

Rotten Tomatoes über „Das kostbarste aller Güter“

Wikipedia über „Das kostbarste aller Güter“ (Buch: deutsch, englisch, französisch, Film: deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Michel Hazanavicius‘ „The Artist“ (The Artist, Frankreich 2011)

Meine Besprechung von Michel Hazanavicius‘ „Final Cut of the Dead“ (Coupez!, Frankreich 2022) (ein gänzlich anderes Werk)

Jacoby & Stuart über das Buch

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