Neu im Kino/Filmkritik: Über den Dokumentarfilm „Das Deutsche Volk“

Am 19. Februar 2020 ermordet der 43-jährige Rechtsextremist Tobias Rathjen in Hanau innerhalb weniger Minuten neun junge Menschen mit Migrationsbiographie: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Sechs weitere Menschen verletzt er teilweise schwer. Anschließend erschießt Rathjen seine Mutter und sich selbst.

Marcin Wierzchowski begann unmittelbar danach mit seinem Dokumentarfilm „Das Deutsche Volk“. Er befragt die Angehörigen und auch die Überlebenden des Anschlags. Er lässt sie reden. Er beobachtet sie und hält sich dabei unauffällig im Hintergrund. Über mehrere Jahre begleitet er sie und zeigt auch, wie sie um Informationen, Anerkennung ihres Leids und die richtige Form des Gedenkens kämpfen.Er zeigt, wie Rathjens Tat ihr Leben beeinflusst.

Das hat unbestritten viele starke Momente. Auch Wierzchowskis Entscheidung, den Film als SW-Film in ruhigen Bildern zu präsentieren, gefällt. Weniger, viel weniger gefällt, dass Wierzchowski sein Material chronologisch, weitgehend in der Form eines beobachtenden Dokumentarfilms präsentiert. Eine chronologische Anordnung des Materials ist grundsätzlich keine schlechte Idee. Vor allem wenn diese chronologische Erzählung von einem Verfahren oder Ereignissen eingerahmt werden, die ihr eine Dramaturgie mit einem klaren Anfang und Ende geben. Eine polizeiliche Ermittlung, ein Gerichtsverfahren oder ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss sind solche Verfahren. Wierzchowski belässt es bei der mit der Tat beginnenden chronologischen Aneinanderreihung von Ereignissen und wahrscheinlich immer zu diesem Zeitpunkt aufgenommenen Statements Betroffener. Es ist eine auf kein eindeutiges Ende fokussierte, ermüdende Und-dann-Dramaturgie. Irgendwann hört „Das Deutsche Volk“ ainfach auf.

Das andere große Problem ist das eklatante Missverhältnis zwischen investierter Zeit – „Das Deutsche Volk“ dauert 138 Minuten – und Informationsgewinn. Als Zuschauer muss man sich mühsam aus Nebensätzen zusammenreimen, was in der Nacht geschah und in welcher Beziehung die sprechenden Köpfe zu den Ermordeten stehen. Wierzchowski verzichtet auf ein Voice-Over. Er verzichtet auf erklärende Texteinblendungen, wozu auch Namenseinblendungen gehören. Er verzichtet auf eine Einordnung der Statements. Bei aller berechtigten, notwendigen und wichtigen Konzentration auf die Menschen, die sonst keine Stimme haben und die nach meiner Meinung schon seit Jahrzehnten zu Deutschland gehören, wäre das notwendig. So bleiben nur subjektive Statements.

Mit seinem geringen Erkenntnisgewinn ist „Das Deutsche Volk“ bestenfalls eine kleine, bewusst parteiische Ergänzung zum öffentlichen Diskurs über rechtsextremistische Taten.

Das Deutsche Volk (Deutschland 2025)

Regie: Marcin Wierzchowski

Drehbuch: Marcin Wierzchowski

mit Cetin Gültekin, Armin Kurtovic, Said Etris Hashemi, Niculescu Păun, Emis Gürbüz, Piter Minnemann

Länge: 138 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Das Deutsche Volk“

Berlinale über „Das Deutsche Volk“

Moviepilot über „Das Deutsche Volk“

Wikipedia über „Das Deutsche Volk“ und den Anschlag

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