Neu im Kino/Filmkritik: „Berlin Nobody“ – Sekten, Morde und seltsame Rituale

August 1, 2024

Berlin Nobody“ ist kein Thriller und auch kein Krimi. Er hat zwar die Zutaten für einen Thriller – Leichen, viele Leichen, ermittelnde Kriminalbeamte, ein Uni-Professor, der Teil der Ermittlungen ist, eine Sekte, die irgendetwas mit den Morden zu tun hat, eine böse Sektenführerin und eine junge Frau (die Tochter des Professors), die in die Fänge der Sekte gerät – , aber „Berlin Nobody“ ist ein zähes, absolut vorhersehbares und absurdes Drama.

Im Mittelpunkt stehen Ben Monroe, seine Tochter Mazzy und eine Endzeit-Sekte. Der allein lebende, kürzlich geschiedene Professor Ben Monroe (Eric Bana) unterrichtet seit kurzem in Berlin an einer Universität. Von der Polizei und dem Bundesverfassungsschutz wird der Sozialpsychologe, Bestsellerautor und Sektenexperte immer wieder als Experte angefragt. So auch jetzt bei einem Familienselbstmord in einem Vorstadthaus, das seltsamerweise wie eine bayerische Hütte aussieht. Es ist unklar, warum sich die Hausbewohner nacheinander töteten.

Zur gleichen Zeit besucht ihn seine Tochter Mazzy (Sadie Sink). Auf dem Weg vom Flughafen zur Wohnung ihres Vaters wird die Sechzehnjährige von Martin (Jonas Dassler) angesprochen. Sie findet den Jungen sympathisch. Als sie sich wieder mit ihm trifft, stellt er sie seinen Freunden vor. Sie sind alle Mitglieder in einer religiös motivierten, öko-fundamentalistischen Endzeit-Sekte.

Dass die Sekte etwas mit den Morden zu tun hat, ist bereits beim ersten Auftritt der fiesen Sektenführerin Hilma (Sophie Rois, irre) offensichtlich.

Inszeniert und geschrieben wurde der Film von Jordan Scott. Sie ist die Tochter von Ridley Scott, der auch zu den Produzenten des Films gehört. Ihr erster Spielfilm war 2009 „Cracks“. Außerdem inszenierte sie Kurz- und Werbefilme. Trotzdem wirkt ihr zweiter Spielfilm wie ein unbeholfen inszeniertes Debüt, das Potential hat. Das Drehbuch ist vorhersehbar, voller Lücken, krude und unglaubwürdig. Die Inszenierung lehnt sich an Ridley Scotts episch getragenen Stil an, in dem jedes Bild von seiner eigenen Wichtigkeit maßlos überzeugt ist. Hier führt er nur dazu, dass sich der Film wie Kaugummi zieht. Über die Sekte und warum Menschen von Hilma fasziniert sind und für sie Selbstmord begehen, bleibt nebulös. Warum Mazzy sich sofort in die Hände der Sekte begibt, erklärt sich nur aus den Erfordernissen der Geschichte und weil die Drehbuchautorin das so will.

Das, also dass die Sekte immer wie ein Fantasiekonstrukt wirkt, die Handlungen der Figuren keinen Bezug zu irgendeiner Realität haben und Scotts Deutschland wie aus einem Reiseprospekt zusammengestellt wirkt, kann an der Produktionsgeschichte liegen. Die Vorlage, der 2015 erschienene Roman „Tokyo“ von Nicholas Hogg, spielt in Japan. Wegen der Corona-Pandemie waren Dreharbeiten in Tokio nicht möglich. Also verlegte Scott die Geschichte nach Berlin und schrieb sie etwas um. Dummerweise unterscheidet sich die deutsche Kultur im für den Film wichtigen Punkten fundamental von der japanischen Kultur. Entsprechend absurd wirken die Kollektivsuizide der Sekte. Im Endergebnis spielt die Geschichte in einem luftleeren Raum irgendwo im nirgendwo.

„Berlin Nobody“ erzählt eine unglaubwürdige, edel gefilmte, arg langsam und todernst erzählte vollkommen absehbare und absurde Geschichte.

In der Originalfassung wird nachvollziehbar zwischen Deutsch und Englisch gewechselt. Die synchronisierte Fassung soll komplett eingedeutscht sein.

Berlin Nobody (A Sacrifice, USA/Deutschland 2024)

Regie: Jordan Scott

Drehbuch: Jordan Scott

LV: Nicholas Hogg: Tokyo, 2015

mit Sadie Sink, Eric Bana, Sophie Rois, Jonas Dassler, Sylvia Hoeks, Alexander Schubert, Lara Feith, Stephan Kampfwirth

Länge: 94 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Filmportal über „Berlin Nobody“

Moviepilot über „Berlin Nobody“

Metacritic über „Berlin Nobody“

Rotten Tomatoes über „Berlin Nobody“

Wikipedia über „Berlin Nobody“ (deutsch, englisch)


DVD-Kritik: „Faking Bullshit – Krimineller als die Polizei erlaubt“, diese Kleinstadtbullen

Februar 26, 2021

Leben und leben lassen ist das unausgesprochene Motto von Deniz, Rocky, Hagen, Netti und ihren Chef Rainer. Sie sind Provinzpolizisten und mit dem „leben lassen“ haben sie insofern ein Problem, das ein echtes Luxusproblem ist: in ihrem Bezirk gibt es keine Verbrechen. Dieser paradisische Zustand wird zum Problem als von der Polizeidirektion Düsseldorf eine junge, taffe und extrem zielorientierte Beamtin von der Internen Revision zu ihnen nach Ahlen geschickt wird. Sie soll überprüfen, ob die Wache nicht geschlossen werden kann.

Deniz, Rocky, Hagen und Netti beschließen, ohne mit ihrem Chef darüber zu sprechen, sich zu wehren. Sie wollen beweisen, dass sie und ihre Wache gebraucht werden. Nicht mit einer Image-Kampagne, in der Kleinstadtbewohner protestierend vor die Stadtverwaltung ziehen, sondern indem sie beginnen Straftaten zu inszenieren, die sie dann eifrig protokollieren. Auch wenn es anfangs nur ein im Vollrausch eingeworfenes Fenster eines Lokals oder ein geklauter Deoroller ist.

Schwieriger wird die Situation für sie, als die Interne Revisorin ahnt, wer für die amateurhaft durchgeführten Verbrechen verantwortlich ist und sie verlangt, dass die Beamten die Täter überführen.

Faking Bullshit – Krimineller als die Polizei erlaubt“, ein Remake der schwedischen Komödie „Kops“, ist das Regiedebüt von Alexander Schubert. Als Albrecht von Humboldt gehört er zum Ensemble der „heute-show“. Um nur seine bekannteste Rolle zu nennen. Denn die Satiresendung hat auf den Film keinen direkten Einfluss. „Faking Bullshit“ will keine Polit-Satire sein und auch keine knallig zugespitzte schwarzhumorige Komödie wie „The Guard“, in der ein schwarzer FBI-Agent in Irland mit einem örtlichen Kollegen eine Drogenschmugglerbande jagt und Regisseur und Drehbuchautor John Michael McDonagh die Gegensätze und Vorurteile hemmungslos aufeinanderprallen lässt.

Faking Bullshit“ ist und will auch nicht mehr sein, als ein bestenfalls nett-harmloses Komödchen, das sich viel Zeit lässt, seine Figuren voller Sympathie beim Nichtstun zu beobachten. Es gibt einige eher didaktische als witzige Dialoge über Vorurteile gegenüber Ausländern, Geschlechterklischees und Kunst. Denn die Interne Revisorin Tina (Auf der Wache 23 wird sich prinzipiell geduzt.) war vor ihrer Strafmission in die nordrhein-westfälische Provinz bei der Eröffnung einer Austellung eines anonymen Künstlers als Aktivistin auffällig geworden. A3N, so das Pseudynom des Künstlers, stellte riesige Bilder von wie Augen aussehenden Vulven aus und provozierte damit eine Diskussion über Kunst oder Pornographie. Die Bilder wurden gestohlen und Deniz glaubt jetzt, dass die wertvollen Bilder in Ahlen in einer Garage versteckt sind.

Der harmoniesüchtige Film plätschert harmlos behäbig und absolut vorhersehbar vor sich hin. Die wenigen guten Gags (so sagt Netti bei einem Gespräch mit einem Bürger: „Humor ist in Deutschland verboten.“) wiegen nicht die vielen verpassten Chancen und ignorierten Möglichkeiten auf. Potentiell vielversprechende Figuren und Handlungsstränge werden nicht weiter verfolgt. Und die Lücken in der Geschichte sind ärgerlich. So erfahren wir nicht, um nur ein Beispiel zu nennen, wer warum Rainers Fahrrad stahl und wie es wiedergefunden wurde.

Da drehe ich liebe noch eine Runde in Niederkaltenkirchen.

Faking Bullshit – Krimiller als die Polizei erlaubt (Deutschland 2020)

Regie: Alexander Schubert

Drehbuch: Alexander Schubert

mit Erkan Acar, Sina Tkotsch, Adrian Topol, Sanne Schnapp, Alexander Hörbe, Xenia Assenza, Bjarne Mädel, Alexander von Glenck, Jörg Schüttauf, Mišel Matičević, Dietrich Hollinderbäumer

DVD

EuroVideo

Bild: 16:9

Ton: Deutsch (Dolby Digital 5.1)

Untertitel: –

Bonusmaterial: Trailer

Länge: 99 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Blu-ray identisch. Auch digital verfügbar.

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Faking Bullshit“

Moviepilot über „Faking Bullshit“

Wikipedia über „Faking Bullshit“


TV-Tipp für den 23. September: Gundermann

September 22, 2020

Arte, 20.15

Gundermann (Deutschland 2018)

Regie: Andreas Dresen

Drehbuch: Laila Stieler

TV-Premiere. Andreas Dresens breit abgefeiertes Biopic über Gerhard Gundermann, Tagebau-Baggerfahrer in der Lausitz und von seinen Fans verehrter DDR-Musikerstar.

Im Gegensatz zur allgemeinen Euphorie fand ich den Film letztendlich ärgerlich.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Alexander Scheer, Anna Unterberger, Axel Prahl, Thorsten Merten, Eva Weißenborn, Benjamin Kramme, Kathrin Angerer, Milan Peschel, Bjarne Mädel, Peter Sodann, Alexander Schubert, Horst Rehberg

Das Buch zum Film

Andreas Leusink (Herausgeber): Gundermann – Von jedem Tag will ich was haben, was ich nicht vergesse…

Ch. Links Verlag, 2018

184 Seiten

20 Euro

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Gundermann“

Moviepilot über „Gundermann“

Wikipedia über „Gundermann“ und Gerhard Gundermann

Meine Besprechung von Andreas Dresens „Als wir träumten“ (Deutschland/Frankreich 2015)

Meine Besprechung von Andreas Dresens James-Krüss-Verfilmung „Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen“ (Deutschland 2017)

Meine Besprechung von Andres Dresens „Gundermann“ (Deutschland 2018)


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: „Gundermann“, ein Sängerknabe aus dem Osten

August 24, 2018

Gundermann“ ist der neue Film von Andreas Dresen und die meisten Kritiken sind, so mein Überblick, überaus positiv. Ich fand den Film, und das kann ich schon jetzt sagen, ärgerlich.

Bevor wir uns mit dem Biopic beschäftigen, muss ich einiges über Gerhard ‚Gundi‘ Gundermann erzählen. Im Osten war er bekannt wie ein bunter Hund. Im Westen nicht. Nicht vor der Wende, was natürlich auch daran lag, dass DDR-Musiker vor einer Westtour eine Ausreisegenehmigung brauchten und diese nicht so einfach bewilligt wurde. Nach der Wende war die große Zeit der Liedermacher vorbei. Grunge und Techno wurden gehört. Aus der ehemaligen DDR, den fünf neuen Ländern, kam in den Neunzigern musikalisch Mittelalter-Metal und „Rammstein“. Sogar Gundermanns Tod am 21. Juni 1998 wurde im Westen ignoriert. Jedenfalls ist mir kein Nachruf bekannt. Auch in den einschlägigen Musikzeitschriften wurde lieber über Grunge, Techno und die Hamburger Schule geschrieben und gesprochen, während die Kneipenboxen zur „Wonderwall“ wurden.

 

Gundermanns Leben in einigen Daten

 

Gerhard Gundermann wurde am 21. Februar 1955 in Weimar geboren. 1967 ziehen seine Eltern mit ihm nach Hoyerswerda. Nach seinem Abitur 1973 studiert er in Löbau an der Offiziershochschule der Landstreitkräfte. Weil er ein Loblied auf einen Vorgesetzten nicht singen will, wird er exmatrikuliert. Danach beginnt er als Hilfsarbeiter im Tagebau Spreetal und wird schließlich Baggerfahrer im Braunkohletagbau. Die Lausitz ist seine Heimat. Über sie, seine Arbeitskollegen und ihr Leben schreibt er Lieder.

Er wird Mitglied im „Singeklub Hoyerswerda“, der damals durch seinen mehrstimmigen Gesang begeistert. Bei ihren Auftritten zeigen sie, dass sie das Musizieren ernster als andere Chöre nehmen. Aus dem Singeklub entsteht die „Brigade Feuerstein“, für die Gundermann die Lieder schreibt, in denen er sein Leben und den Alltag reflektiert. Ohne Mitgesangserlaubnis (Öhm, das gab es im Westen nicht.). Die „Brigade Feuerstein“ präsentiert eine Mischung aus Gesang und Kleinkunst. Sie treten auch mit Musicals auf. Die Gruppe hat in der DDR zahlreiche Auftritte.

Während dieser Zeit, von 1976 bis 1984, ist Gundermann als „Grigori“ Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Stasi. Die Stasi beendet die Zusammenarbeit, weil Gundermann ‚prinzipiell eigenwillig‘ ist. Ebenfalls 1984 wird er, nach mehreren Verwarnungen aus der SED ausgeschlossen. Als Idealist hatte er an die Partei geglaubt und gehofft, durch das Hinweisen auf Probleme die gesellschaftlichen Ziele zu erreichen.

1983 heiratet er, nach jahrelangem Werben, seine Jugendliebe Conny. Sie war damals bereits verheiratet. Sie hat zwei Kinder von ihrem ersten Mann, der ebenfalls mit Gundermann musizierte und später in dessen alte Wohnung zieht.

Musikalisch geht es in diesen Jahren für Gundermann weiter aufwärts. 1989 schreibt er Songs für „Silly“. Er tourt. Er erhält Preise. Er tritt auf und er bleibt weiterhin Baggerfahrer. Er wolle den Kontakt zur arbeitenden Klasse nicht verlieren und seine Unabhängigkeit von der Musikindustrie bewahren.

In der Wendezeit mischt der überzeugte Kommunist sich aktiv politisch ein. Er kandidiert auch für das Aktionsbündnis Vereinigte Linke. Erfolglos.

Nach der Wende tritt er mit der Band „Die Seilschaft“ auf. Im Westen bleibt er unbekannt. Zu seiner IM-Tätigkeit bekennt er sich 1995 während eines Konzerts. Seine Fans verübeln ihm das nicht weiter.

Zwischen seinen Auftritten, seiner Arbeit als Baggerfahrer (die er finanziell nicht mehr hätte ausüben müssen) und seinem Familienleben mit mehreren Kindern, hat er kaum Schlaf. Am 21. Juni 1998 stirbt er im sächsischen Spreetal an einem Gehirnschlag. Er wurde nur 43 Jahre alt.

 

Dresens Film über den Liedermacher

 

Das ist ein Leben, aus dem man ein Biopic machen kann. Man muss nur den Aspekt herausfiltern, der im Mittelpunkt des Films stehen soll. In „Gundermann“ ist es für Regisseur Andreas Dresen und seine langjährige Drehbuchautorin Laila Stieler Gundermanns Stasi-Verstrickung und der Film ist letztendlich eine ärgerliche Stasi-Weißwaschung, die einen immer wieder stutzen lässt und ihren Höhepunkt am Filmende erreicht. Dazu später mehr.

Dresen erzählt seinen Film auf zwei Zeitebenen. Einmal ab Mitte der siebziger Jahre, wenn Gundermann seine Stelle als Baggerfahrer im Braunkohletagebau antritt; einmal ab den frühen neunziger Jahren, wenn er zum ersten Mal mit seiner Stasi-Vergangenheit konfrontiert wird. Dieser Erzählstrang endet mit Gundermanns IM-Bekenntnis auf offener Bühne. Und, ja, seine Fans hatten anscheinend kein Problem damit.

Ein Problem bei dieser Erzählweise ist in diesem Fall, dass Gundermanns Aussehen sich innerhalb der zwanzig Jahre, die im Film erzählt werden, kaum verändert. So ist immer wieder im ersten Moment unklar, wann die Szenen genau spielen. Bei den zahlreichen Konzertausschnitten ist das Problem noch offensichtlicher. Auch weil die Musiker, wie fast alle anderen Charaktere, Staffage bleiben.

Die Musik, neu eingespielt von Hauptdarsteller Alexander Scheer (der im Film wirklich wie Gundermann aussieht) und Mitgliedern von Gisbert zu Knyphausens Band, klingt ‚ostig‘.

Für ein Publikum, das Gerhard Gundermann nicht kennt, wird im Film auch nicht deutlich, wie wichtig und groß er für sein Publikum und die DDR-Musik- und -Kleinkunstszene war. Nur bei einem DDR-Auftritt sehen wir sein Publikum und es ist überschaubar: er klampft in einer matschigen Grube vor seinen Kollegen und sie sind gerührt, wie treffend er sie beschreibt. Bei diesem und auch seinen anderen Auftritten ist unklar, ob es sich um eine lokale Berühmtheit so in Richtung „unser Kollege, der Gitarre spielt“ oder um mehr handelt. Auch weil Gundermann niemals seinen Beruf als Baggerfahrer aufgibt, scheint sich seine Situation nicht zu ändern. Es ist keine Entwicklung von einem Feierabendmusiker zu einem Profimusiker, der mit seiner Arbeit Geld verdient, erkennbar.

Immerhin wird in dem Film deutlich, wie wichtig für Gundermann diese Arbeit ist. Und es gibt verklärende Bilder von der Braunkohlegrube, in der die Kumpels Tag und Nacht schuften, um die Wirtschaft am Laufen zu halten.

Dazwischen wird immer wieder, schon ab dem Filmanfang, Gundermanns Spitzeltätigkeit angesprochen. In dieser Szene spricht ein früherer Freund ihn auf seine Spitzeltätigkeit an. Gundermann behauptet, er könne sich nicht daran erinnern und beginnt, als er allein im Zimmer ist, sofort in der Akte zu blättern. Diese Einführung von Gundermann setzt das Thema des Films und sie macht ihn im gleichen Moment sehr unsympathisch. Denn er ist ein Mensch, der seine Vergangenheit leugnet, verdrängt, herumschnüffelt und nur auf seinen Vorteil bedacht ist. Dass er in der nächsten Szene einen Igel vor dem Tod rettet und liebevoll pflegt, ändert nichts an dem ersten Eindruck.

Im Film kann Gundermann sich ziemlich lange nicht an seine IM-Tätigkeit erinnern. Wir sollen glauben, dass er sich nicht an seine wenige Jahre zurückliegenden zahlreichen Gespräche mit seinem Führungsoffizier und an die Aufträge, die er von ihm bekommen hat, erinnert. Das wirkt nicht besonders glaubwürdig. Vor allem, weil in den frühen Neunzigern in Deutschland ausführlich darüber gesprochen wurde. Und wenn er später beginnt, mit den von ihm bespitzelten Menschen darüber zu reden, entwickeln diese Gespräche sich in ihrer fast immergleichen Dramaturgie zu einem schlechten Running Gag: Gunderman sagt, er habe gespitzelt. Der Gesprächspartner nimmt den Vertrauensbruch achselzuckend hin. Einmal lädt er ihn zum gemeinsamen Schnaps trinken ein, weil er ja auch Gundermann bespitzelt habe. Über den Verrat scheint dagegen niemand irgendwie schockiert zu sein.

Das Filmende steigert den Running Gag zu einem grotesken Höhepunkt: Gundermann tritt mit seiner Band auf. Er bekennt sich zu seiner IM-Vergangenheit. Die Band rockt los und alle, auch die von ihm früher bespitzelten Menschen, jubeln begeistert. Das ist eine klassische Überwältigungsstrategie, die dem Publikum – äußerst plump – eine bestimmte Meinung und Reaktion aufzwingt. Es kann dem vorher gesagten nur noch bedingungslos zugestimmt. Dem Konzert- (es ist eine wahre Szene) und Kinopublikum bleibt nur eine Möglichkeit: den Spitzel für eine coole Socke zu halten und ihm mit dem ersten Rockriff jubilierend die Absolution erteilen.

Dresen zwingt das Publikum emotional, einem Spitzel seine Tätigkeit zu vergeben. Und er lässt durch seine Montage keinen Zweifel daran, dass er das für die einzig richtige Reaktion hält. Schließlich hätte Dresen Gundermanns Stasi-Outing auch anders inszenieren können.

Angesichts der Diskussionen, die es in den Neunzigern über IM-Tätigkeiten und andere Verstrickungen mit der SED gab, angesichts der Diskussionen, die es in Berlin vor der ersten rot-roten Koalition gab (in Gesprächen traf ich damals viele Ostler, die eine Beteiligung der jetzigen Linkspartei vehement ablehnten) und angesichts des sehr schnell zu seiner Entlassung als Staatssekretär führenden Aufschreis, als 2016/2017 Andrej Holms Tätigkeit als Hauptamtlicher Mitarbeiter beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) von Ende September 1989 bis Ende Januar 1990 herauskam, ist Dresens Umgang mit Gundermanns IM-Vergangenheit umso ärgerlicher. Dieses Ende ist in dem Film kein Ausrutscher, sondern es wird schon von der ersten Minute an vorbereitet. Dabei, um es noch einmal klar zu sagen, ist das Problem des Biopics nicht, dass ich für einen Spitzel Sympathie empfinden soll, sondern mit welchen erzählerischen Methoden ich sein Handeln gutheißen soll.

Gundermann (Deutschland 2018)

Regie: Andreas Dresen

Drehbuch: Laila Stieler

mit Alexander Scheer, Anna Unterberger, Axel Prahl, Thorsten Merten, Eva Weißenborn, Benjamin Kramme, Kathrin Angerer, Milan Peschel, Bjarne Mädel, Peter Sodann, Alexander Schubert, Horst Rehberg

Länge: 127 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Das Buch zum Film

Zum Film erschien das von Andreas Leusink herausgegebene Begleitbuch „Gundermann“. Es enthält ausführliche Interviews mit Conny Gundermann (seiner Frau), Hauptdarsteller Alexander Scheer, Drehbuchautorin Laila Stieler, Regisseur Andreas Dresen und den Musikern Tina Powileit, Mario Ferraro (beide „Die Seilschaft“), Sebastian Deufel (Gisbert-zu-Knyphausen-Band) und dem Film-Music-Supervisor Jens Quandt. Gundermann-Musiker Lutz Kerschowski erinnert sich an seine 1977 beginnende sieben Jahre währende Zusammenarbeit mit Gundermann. Ingo ‚Hugo‘ Dietrich erinnert sich an seine Zeit mit Gundermann bei der „Brigade Feuerstein“. Beide Texte geben einen interessanten und persönlichen Einblick in die DDR-Musikszene. Es gibt Texte über Gundermanns Eltern (und seine schwierige Beziehung zu seinem Vater), sein Verhältnis zur SED und über seine Spitzeltätigkeit (mit Originaldokumenten) und viele Bilder. Teils historische, teils aus dem Film. Das Buch ist, wie schon Andreas Leusink in seinem Vorwort schreibt eine Ergänzung zu den vorhandenen Büchern über Gundermann.

Damit ist es vor allem eine gelungene Ergänzung und Vertiefung des Films.

Andreas Leusink (Herausgeber): Gundermann – Von jedem Tag will ich was haben, was ich nicht vergesse…

Ch. Links Verlag, 2018

184 Seiten

20 Euro

Die Buchpräsentation

Am Mittwoch, den 5. September, gibt es im Pfefferberg-Theater (Schönhauser Allee 176, 10119 Berlin) um 20.00 Uhr eine Buchpräsentation. Knut Elstermann (rbb/radio eins) unterhält sich mit Herausgeber Andreas Leusink, Regisseur Andreas Dresen und Drehbuchautorin Laila Stieler über Gundermann, den Film und das Buch.

Die Veranstaltung ist eine Kooperation des Ch. Links Verlags, literatur live berlin, der Thalia Buchhandlung und dem Pfefferberg Theater, präsentiert von radio eins und tip. Tickets kosten im Vorverkauf 12 Euro (plus Gebühren) und an der Abendkasse 13,50 Euro.

Hinweise

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Filmportal über „Gundermann“

Moviepilot über „Gundermann“

Wikipedia über „Gundermann“ und Gerhard Gundermann

Meine Besprechung von Andreas Dresens „Als wir träumten“ (Deutschland/Frankreich 2015)

Meine Besprechung von Andreas Dresens James-Krüss-Verfilmung „Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen“ (Deutschland 2017)


Neu im Kino/Filmkritik: „Vorwärts immer!“ sagen der echte und der falsche Erich Honecker

Oktober 16, 2017

Was tut ein Vater nicht alles für seine Tochter? Zum Beispiel während der letzten Tage der DDR sich als Erich Honecker in die Höhle des Löwen begeben.

Das tut Otto Wolf (Jörg Schüttauf), der als bester Honecker-Darsteller der DDR gerade ein Theaterstück probt, das angesichts der revolutionären Lage auch Kommentare zur aktuellen Situation enthalten soll.

Geradezu entsetzt ist er von dem Plan seiner Tochter Anne (Josefine Preuß), zu ihrer Mutter in den Westen zu flüchten. Deshalb zerreißt er ihren falschen Pass, mit dem sie in die BRD ausreisen wollte. Also muss sie Ersatzpapiere beschaffen und das geht, wie der Zufall will, nur in Leipzig. Dort soll am Abend auch eine große Demonstration stattfinden, .

Es ist die Demonstration vom 9. Oktober 1989 und es heißt, so erfährt Wolf in den Gängen des Theaters aus gut informierten Kreisen, dass Erich Honecker einen Schießbefehl gegeben hat.

Um seine nichtsahnende Tochter zu beschützen – schließlich ist er immer noch ihr Vater und sie fährt ja nur wegen seiner gutgemeinten Tat nach Leipzig – lässt er sich von seinen Freunden im Theater, die Anne ebenfalls kennen und mögen, zu einem gewagten Plan überreden. Als Erich Honecker soll er im Zentralkomitee den Schießbefehl widerrufen.

Das ist der Plan, der schnell auf die Realität trifft. Er kennt das Gebäude und das Personal nicht. Die Parteioberen kennt er immerhin aus dem Fernsehen. Und dann trifft er noch auf Margot Honecker und den echten, schon etwas senilen Erich Honecker.

Fast dreißig Jahre nach dem Mauerfall und über zehn Jahre nachdem Produzent Philipp Weinges erstmals mit dem Stoff in Berührung kam, läuft jetzt „Vorwärts immer!“ in unseren Kinos. „Wir waren überrascht, dass eine relativ harmlose, aber liebevoll erzählte Honecker-Komödie 25 Jahre nach dem Fall der Mauer auf so viel Widerstand stoßen könnte.“ Weinges fährt fort: „Im Westen fand man die Idee durchaus witzig, konnte sich aber nicht vorstellen, dass eine solche Geschichte funktioniert. Die einen fanden sie zu anspruchsvoll für ihr Publikum, die anderen hielten sie für zu albern für ihre in die Jahre gekommenen Zuschauer. Im Osten war die Empörung riesig. Die einen wehrten sich dagegen, dass Menschen aus dem Westen sich schon wieder über ihre Geschichte lustig machen, andere wiederum fühlten sich persönlich beleidigt, weil man sich über Honecker amüsierte.“

Und das soll man in „Vorwärts immer“: sich amüsieren in einer harmlosen, liebevoll erzählten, nostalgischen Honecker-Komödie, die von ihren Macher schon auf einer so kleinen Flamme gekocht wird, dass Vergleich mit Komödienklassikern wie „Sein oder Nichtson“ oder „Der große Diktator“, die auch Satiren mit einer klaren politischen Agenda waren, unfair sind. „Vorwärts immer!“ beansprucht für sich nur den Platz des harmlosen Amüsements.

Trotzdem findet „Vorwärts immer!“ nie die richtige Mischung zwischen Amüsement über die verkrusteten Strukturen der DDR, Slapstick (eher weniger), Klamauk und Boulevardtheater (mehr, auch weil das der vorherrschende Humorton ist) und Thrillerelementen, die in einer Komödie vollkommen unpassend sind. Das gilt vor allem für den Handlungsstrang mit Wolfs Tochter Anne, die in Leipzig in Lebensgefahr gerät.

Optisch ist das mit seiner weitgehenden Begrenzung auf Innenräume (der in Leipzig spielende Thriller-Plot weicht etwas davon ab) und seinem biederen, niemanden verletzenden Humor auf dem Niveau eines TV-Films inszeniert. Auch die Länge von etwas über neunzig Minuten spricht für eine 20.15-Uhr-Ausstrahlung auf einem der fest bei der ARD gebuchten Degeto-Sendeplätze.

P. S.: Günter Knarr schrieb die Drehbücher für die „Inspektor Jury“-Film. Und verglichen mit denen ist „Vorwärts immer!“ grandios.

Vorwärts immer! (Deutschland 2017)

Regie: Franziska Meletzky

Drehbuch: Markus Thebe, Philipp Weinges, Günter Knarr, Franziska Meletzky

mit Jörg Shüttauf, Josefine Preuß, Jacob Matschenz, Hedi Kriegeskotte, Marc Benjain, Steffen Scheumann, Andre Jung, Alexander Schubert, Stephan Grossmann, Devid Striesow

Länge: 98 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

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