Neu im Kino/Filmkritik: „Tár“ – euphorische Kritiken, viele Preise und bald auch einige Oscars?

März 3, 2023

Neben Steven Spielbergs „Die Fabelmans“ (der nächste Woche in Deuschland anläuft) ist Todd Fields „Tár“ der Film, der international schon seit Monaten allgemein abgefeiert und diskutiert wird. Außerdem steht das Drama, neben „Die Fabelmanns“, auf etlichen Nominierungslisten. So sind beide Filme in den Kategorien bester Film, beste Regie und bestes Drehbuch für den Oscar nominiert. Cate Blanchett ist als beste Hauptdarstellerin nominiert. Ebenso Michelle Williams für ihr Spiel in „Die Fabelmans“.

Blanchett spielt Lydia Tár, eine hochgelobte, international geachtete und bekannte Dirigentin, Pianistin, Komponistin und, mit verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Aktionen und Engagements, eine hoch respektierte Person der Klassikwelt und des öffentlichen Lebens. Sie ist auch die erste Chefdirigentin eines großen deutschen Orchesters.

Jetzt will sie Gustav Mahlers Fünfte Sinfonie mit ihrem Orchester, den Berliner Philharmoniker, neu interpretieren und aufnehmen. Dann hätte sie mit einem Orchester alle Mahler-Sinfonien aufgenommen. Diese Proben für das Stück bilden über einen großen Teil des fast dreistündigen Films einen roten Faden, der all die Episoden und Ereignisse aus dem Leben der Dirigentin zusammenhält. Mit der Aufführung der Mahler-Interpretation könnte der Film dann zu Ende sein. Aber nach der aus dem Ruder laufenden Premiere in Berlin folgt nicht der Abspann, sondern ein vollkommen neuer Abschnitt aus Lydia Társ Leben. Dieser Teil ist deutlich schwächer, viel zu lang geraten und letztendlich, vor allem in der Länge, überflüssig.

Bis zur Aufführung ihrer Mahler-Interpretation in Berlin erzählt Field, wie Lydia Tár arbeitet und wie sie mit anderen Menschen umgeht. Sie ist, das wird schnell klar, ein egozentrischer, andere Menschen hemmungslos manipulierender Mensch, der sich seiner Macht bewusst ist und sie jederzeit bedenkenlos bei der Arbeit und im Privatleben einsetzt und dabei auch Berufliches und Privates miteinander vermischt. So lebt sie in einer festen Beziehung mit ihrer Konzertmeisterin Sharon Goodnow (Nina Hoss) und ihrer Adoptivtochter lebt. Trotzdem hat sie keine Probleme damit, bei der Arbeit Affären zu beginnen, aus denen mehr entstehen kann. Tár ist ein Ego-Shooter und das weibliche Pendant zu einem Alpha-Mann.

Das ging über viele Jahre gut. Doch jetzt, zwischen den hohen Ansprüchen an sich selbst und dem veränderten Klima zeigen sich erste Risse. Denn die Zeit, als unter dem Label „Geniekult“ alles akzeptiert wurde, ist vorbei.

Field präsentiert dies in einer Abfolge von Szenen, die auf den ersten Blick einfach nur eine Abfolge ziemlich unverbundener Ereignisse zwischen der Ankündigung einer Mahler-Interpretation und der Aufführung dieser Interpretation sind.

Erst bei der Premiere in Berlin fügen sich die einzelnen, sich teilweise quälend lang hinziehenden Szenen zu einem Gesamtbild zusammen und es gibt rückblickend zwei beeindruckend konsequent durchgezogene Spannungsbögen. Der eine erzählt, quasi als Horrorfilm, den Zusammenbruch einer Künstlerin. Der andere erzählt von Macht, wie sie angewendet wird, welche Auswirkungen das auf die manipulierten Betroffenen hat (die teils selbst Täterinnen sind) und wie eben dieses Herrschaftssystem immer stärker gefährdet ist. Denn Tár erkennt zwischen #metoo, Cancel Culture und neuen Ansprüchen und Sensibilitäten von Minderheiten und Betroffene nicht mehr, wo und wie ihre Position gefährdet ist. Auch weil die Betroffenen, vermeintlich und echt, manchmal vielleicht auch übersensibel, sich zu Wort melden. Andere Betroffene spielen das Spiel mit. Und Regisseur Todd Field hält sich mit allzu eindeutigen Bewertungen zurück.

Dieser Teil der Charakterstudie ist, wie eine Symphonie, ein in sich geschlossenes Werk, das in einem kurzen Zeitraum (den Proben) an einem Ort (Berlin) spielt. Daran schließt sich die, nun, Zugabe an. Sie ist ein in Asien spielendes Potpourri, das man genausogut hätte weglassen oder, wenn man unbedingt einen „Was danach geschah“-Epilog möchte, auf ein, zwei Minuten hätte kürzen können.

Durch seine Machart ist „Tár“ ein sehr sperriges, oft dröges, deutlich zu lang geratenes Arthaus-Psychodrama mit vielen Berlin-Bildern, einem satirisch überspitzten Einblick in den Klassik-Betrieb, viel klassischer Musik und einer schauspielerischen Tour de Force für Cate Blanchett, die hier ein ziemliches Ekelpaket spielt.

Tár (Tár, USA 2022

Regie: Todd Field

Drehbuch: Todd Field

mit Cate Blanchett, Nina Hoss, Noémie Merland, Adam Gopnik, Julian Glover, Mark Strong, Sophie Kauer, Allan Corduner, Marie-Lou Sellem, Leonard Bernstein, Johann von Bülow

Länge: 159 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Filmportal über „Tár“

Moviepilot über „Tár“

Metacritic über „Tár“

Rotten Tomatoes über „Tár“

Wikipedia über „Tár“ (deutsch, englisch)

In den vergangenen Monaten gab es zahlreiche Q&As zum Film mit Regisseur/Autor Todd Field, Hauptdarstellerin Cate Blanchett und weiteren am Film beteiligten Personen wie Nina Hoss (die Freundin von Lydia Tár im Film) und der Komponistin Hildur Guðnadóttir. Hier die „New York Film Festival“-Pressekonferenz: