Neu im Kino/Filmkritik: Über das Road-Movie „791 km“, das Drama „All eure Gesichter“, den Noir „Eileen“ und das Biopic „Munch“

Dezember 16, 2023

Wegen eines Sturmtief stellt die Bahn ihren Betrieb ein und verteilt Taxi-Gutscheine an die am Abend in München im Hauptbahnhof gestrandeten Passagiere. Die pensionierte Professorin und verbal rüstige Alt-Prostlerin Marianne (Iris Berben), das zerstrittene Pärchen Tiana (Nilam Farooq), die am nächsten Vormittag eine für ihr Start-Up wichtige Präsentation, und Freund, der tiefenentspannte Schluffi Philipp (Ben Münchow), und die geistig behinderte Susi (Lena Urzendowsky) entern Josephs Taxi. Jeder von ihnen muss aus einem anderen wichtigen Grund am nächsten Tag in Hamburg sein.

Als der notorisch schlecht gelaunte Joseph (Joachim Król) die Taxi-Gutscheine sieht und erfährt, dass er jeden Gutschein einzeln abrechnen kann, ist er bereit von München nach Hamburg zu fahren.

In seinem Feelgood-Film „791 km“ erzählt Tobi Baumann („Faking Hitler“), wie die fünf Menschen, die sich zufällig getroffen haben, sich auf der nächtlichen Fahrt quer durch Deutschland näher kommen. Und wie es das Drehbuch so will, sind sie alle gegensätzliche und sich entsprechnd gut ergänzende Archetypen, die auch ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft sind. Das ist immer eine Spur zu didaktisch erzählt und zu sehr in Richtung TV-Bildschirm erzählt, um auf der großen Kinoleinwand zu begeistern.

791 km (Deutschland 2023)

Regie: Tobi Baumann

Drehbuch: Gernot Gricksch (nach einer Idee von Tobi Baumann)

mit Iris Berben, Joachim Król, Nilam Farooq, Ben Münchow, Lena Urzendowsky, Langston Uibel, Barbara Philipp, Denis ‚Marschall‘ Ölmez, Götz Otto

Länge: 103 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Filmportal über „791 km“

Moviepilot über „791 km“

Wikipedia über „791 km“

In einem Stuhlkreis sitzen Täter und Opfer eines Verbrechens und reden darüber. ‚restorative justice‘ nennt sich die Methode. Es geht um einen formalisierten Prozess des gegenseitigen Verstehens und auch Verzeihens. Sie ähnelt dem bei uns als Täter-Opfer-Ausgleich bekannten Modell.

In seinem Spielfilm „All eure Gesichter“ zeigt Jeanne Herry („In sicheren Händen“) mehrere dieser Prozesse und sie zeigt die Chancen, die diese Methode hat. Sie geht auch auf die Voraussetzungen, aber nicht auf die Beschränkungen ein.

Trotzdem ist „All eure Gesichter“ als karg inszeniertes, sich auf seine Schauspieler, die sich teils im Stuhlkreis, teils direkt gegenüber sitzen, konzentrierendes Dialogdrama sehenswert. Das Kammerspiel für die große Leindwand regt zum Nachdenken über Schuld, Sühne und verschiedene Methoden einer Verarbeitung an.

All eure Gesichter (Je verrai toujours vos visages, Frankreich 2023)

Regie: Jeanne Herry

Drehbuch: Jeanne Herry, Chloé Rudolf

mit Birane Ba, Leïla Bekhti, Dali Benssalah, Elodie Bouchez, Suliane Brahim, Jean-Pierre Darroussin, Adèle Exarchopolous, Gilles Lellouche, Miou-Miou, Denis Podalydès

Länge: 118 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

AlloCiné über „All eure Gesichter“

Moviepilot über „All eure Gesichter“

Rotten Tomatoes über „All eure Gesichter“

Wikipedia über „All eure Gesichter“ (englisch, französisch)

Massachusetts im Winter 1964: die schüchterne Eileen Dunlop (Thomasin McKenzie) lebt noch bei ihrem Vater, einem jähzornigem Alkoholiker, und arbeitet im Jugendgefängnis als Sekretärin. Ihr triester Alltag verändert sich schlagartig, als die neue Psychologin des Gefängnisses eintrifft. Rebecca Saint John (Anne Hathaway) ist ein Marilyn-Monroe-Lookalike, die sofort allen Männern den Kopf verdreht. Aber dann lädt die Femme Fatale Eileen zu einem Drink ein.

Eileen“ ist die langweilige Arthaus-Version eines Noirs. Für einen gelungenen Noir entwickelt sich die Geschichte viel zu langsam und nebulös. Ehe dann im dritten Akt plötzlich alles anders wird.

Eileen (Eileen, USA 2023)

Regie: Willliam Oldroyd

Drehbuch: Ottessa Moshfegh, Luke Goebel

LV: Ottessa Moshfegh: Eileen, 2015 (Eileen)

mit Thomasin McKenzie, Anne Hathaway, Shea Whigham, Marin Ireland, Owen Teague

Länge: 98 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Eileen“

Metacritic über „Eileen“

Rotten Tomatoes über „Eileen“

Wikipedia über „Eileen“ (deutsch, englisch)

In seinem Biopic „Munch“ über den Künstler Edvard Munch (12. Dezember 1863 – 23. Januar 1944) (Ja, das ist der mit dem Bild „Der Schrei“, das die Ghostface-Maske in den „Scream“-Filmen inspirierte.) erzählt Henrik M. Dahlsbakken das schwierige Leben des Künstlers zwischen Alkoholismus, Genie und Wahnsinn nicht chronologisch nach. Er zersplittert es auf mehrere Zeitebenen, zwischen den er kontextlos hin und her springt und er lässt Munch von drei Schauspielern und einer Schauspielerin spielen. Sie spielen ihn als 21-, 29-, 45- und 80-jährigen Mann. Und für jeden Munch-Schauspieler gibt es einen eigenen Stil.

Das Ergebnis ist ein sich experimentell gebendes Biopic, das wenig über den Künstler verrät und einen erstaunlich unberührt lässt.

Munch (Munch, Norwegen 2023)

Regie: Henrik M. Dahlsbakken

Drehbuch: Mattis Herman Nyquist, Gina Cornelia Pedersen, Fredrik Høyer, Eivind Sæther

mit Alfred Ekker Strande, Mattis Herman Nyquist, Ola G. Furuseth, Anne Krigsvoll, Anders Baasmo Christiansen, Lisa Carlehed, Jesper Christensen

Länge: 105 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Munch“

Rotten Tomatoes über „Munch“

Wikipedia über „Munch“ und Edvard Munch (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „Chasing the Wind“, auf den Fjord blickend

Juni 13, 2014

Zuerst will die in Berlin lebende Anna nicht zurück nach Norwegen. Aber ihr Verlobter Mathias meint, sie würde es später bereuen, wenn sie nicht zur Beerdigung ihrer Großmutter gehen würde. Also macht sie sich auf den langen Weg zu dem kleinen norwegischen Dorf am Meer und wir wissen schnell, warum sie nicht mehr zurück in das Kaff wollte. Der Großvater schweigt die meiste Zeit und er ist ein rechter Stoffel, der es sich anscheinend zur Lebensaufgabe machte, möglichst viele Menschen zu verärgern. Auch gegenüber Anna, der er still einiges vorwirft, verhält Johannes sich feindselig.
Kurz nach ihrer Ankunft trifft sie ihren Ex-Freund Håvard, der inzwischen alleinerziehender Vater ist. Er ist überhaupt nicht erfreut über das Auftauchen seiner Jugendliebe. Dennoch erklärt er sich, nachdem Johannes alle im Katalog stehenden Särge ablehnte, bereit, einen Sarg für Annas Großmutter zu zimmern und die alten Gefühle flammen wieder auf.
Gleichzeitig erfährt sie einiges über ihre Großmutter und die Beziehung zu ihrem Großvater verändert sich.
„Chasing the Wind“ ist ein langsam erzählter Film der schönen Landschaftsaufnahmen (die Trøndelag-Küste ist schon sehr fotogen), der sarkastischen Bemerkungen (vor allem der Großvater, der aus vollkommen ungeklärten Gründen die Deutschen liebt und mit Zitaten um sich wirft), des absurden Humors (Håvards Tochter inszeniert verschiedene katastrophale Tote), der schweigsamen Menschen und damit der unausgesprochenen Dinge. Denn Rune Denstad Langlos zweiter Spielfilm nach „Nord“ ist natürlich eine Versuchsanordnung mit überdeutlichen Bildern und Symbolen, in der Anna und ihr Großvater ihre verkorkste Beziehung aufarbeiten müssen. Allerdings ist der Grund für ihr Zerwürfnis nicht, dass sie vor zehn Jahren wegzog und sie nicht mehr besuchte, sondern eine viel ältere Geschichte, die erst am Ende auf eine verquere Art und Weise angesprochen wird und dem Film jede Glaubwürdigkeit raubt.
Auch die vorher enthüllten Gründe für Johannes‘ Schweigsamkeit, seinen stillen Hass auf den Nachbarn und seine, nun, problematische Beziehung zu seiner verstorbenen Frau überzeugen nicht sonderlich, weil nie erklärt wird, warum zum Beispiel Johannes bei seiner Frau blieb, obwohl er sich auch hätte scheiden lassen können.
So bleibt am Ende von „Chasing the wind“ nur eine hochgradig konstruierte Geschichte mit humoristischen, gut gespielten, aber ins Leere laufenden Szenen, vor einer prächtigen Kulisse.

Chasing the Wind - Plakat

Chasing the Wind (Jag etter vind, Norwegen 2013)
Regie: Rune Denstad Langlo
Drehbuch: Rune Denstad Langlo
mit Marie Blokhus, Sven-Bertil Taube, Tobias Santelmann, Anders Baasmo Christiansen, Frederik Meldal Nørgaard, Marte Aunemo, Per Tofte
Länge: 90 Minuten
FSK: ab 0 Jahre (OmU)

Hinweise
Norwegisches Filminstitut über den Film
Deutsche Homepage zum Film (Seite des Verleihs mit den Spielstätten)
Film-Zeit über „Chasing the Wind“
Moviepilot über „Chasing the Wind“
Wikipedia über „Chasing the Wind“