Neu im Kino/Filmkritik: Unfall, Suizid oder Mord? Machen wir die „Anatomie eines Falls“

November 4, 2023

Ein Whodunit ist „Anatomie eines Falls“ (schön doppeldeutiger Titel) nicht. Dafür steht, jedenfalls für die Polizei, die Täterin viel zu schnell fest. Es war die Ehefrau.Es gibt auch keine Spur zu einem anderen möglichen Täter, der Samuel Maleski aus dem Fenster des einsam gelegenen Hauses gestoßen haben könnte. Einen Suizid hält seine Frau Sandra Voyter für unwahrscheinlich. Sie ist eine erfolgreiche Schriftstellerin, die in ihren Werken Wahrheit und Fiktion miteinander verschmilzt. Seit zwei Jahren lebt sie zurückgezogen mit ihrem Mann und ihrem elfjährigem, stark sehbehinderten Sohn Daniel in der Nähe von Grenoble in den Bergen in einem Haus.

Nach einem Spaziergang mit seinem Hund entdeckt Daniel im Schnee die Leiche seines Vaters. In der Stunde vor der Entdeckung der Leiche war Sandra allein mit Samuel. Davor sie stritten sich; – vor einer Studentin, die Sandra für ihre Doktorarbeit interviewte. Anschließend verhinderte er mit lauter und extrem nerviger Musik das Interview.

Alle Beweise sprechen, so stellt auch Sandras Anwalt und Freund Vincent Renzi fest, gegen sie. Das wird auch bei der ungefähr zwei Drittel des Films einnehmenden, im Detail beschriebene Gerichtsverhandlung deutlich. Zeugen sprechen über Sandra, Samuel, die Beziehung von Sandra und Samuel, ihre Beziehung zu ihrem Sohn und wie sich alles in den vergangenen Jahren veränderte. Sandra, die nicht möchte, dass diese intimen Details vor Gericht und damit in der Öffentlichkeit verhandelt werden, steht vor der Frage, welche weiteren Details sie über ihr Leben preisgeben soll.

Als Justine Triets Film dieses Jahr in Cannes die Goldene Palme erhielt, klang es fast so, als habe „Anatomie eines Falls“ nur einen Trostpreis erhalten. Denn Sandra Hüller, die Sandra Voyter spielt, begeisterte in Cannes die Kritik noch in einem weiteren Wettbewerbsfilm. Nämlich Jonathan Glazers Martin-Amis-Verfilmung „The Zone of Interest“. Für die Kritik wurde sie die Schauspielerin des Festivals. Und Sandra Hüller ist auch gewohnt gut als Schrifstellerin, Mutter und Ehefrau, die versucht ihr Privatleben und das ihrer Familie zu schützen. Sie spielt hier, nicht wie in den vergangen Jahren öfters, eine überspannte Frau am Rande des Nervenzusammebruchs, sondern eine normale Frau, die ihre Intimsphäre wahren und ihre Familie beschützen möchte.

Der Film selbst konzentriert sich auf den Kriminalfall. Er zeigt in teils quälender Länge die einzelnen Schritte eines Kriminalfalls vom Anfang bis zum Ende. Also von der Tat über die polizeilichen Ermittlungen, die Besprechungen der Verdächtigen mit dem Anwalt, die einzelnen Verfahrenschritte (wozu hier die Frage, wie die Tatverdächtige, die Mutter, mit dem einzigen Zeugen, der zugleich ihr Sohn ist, zusammenleben kann, ohne dessen Aussage zu beeinflussen) und dem Gerichtsverfahren bis hin zum Urteilsspruch.

Dabei ist dieses Gerichtsverfahren im Vergleich zu den uns aus US-Filmen bekannten Gerichtsverfahren und auch aus anderen französischen Filmen bekannten Gerichtsverfahren erstaunlich wenig formalisiert. Eher schon wirkt es wie ein Kneipenstreit. Das steigert die Spannung und geht auf Kosten der Glaubwürdigkeit.

Gleichzeitig wird deutlich, wie komplex so ein kleiner Fall sein kann. Und wie sehr vergangene Ereignisse in die eine oder in die andere Richtung interpretiert werden können. Auch weil die Zuhörenden nie die ganze Geschichte kennen. Sie fragen sich in dem Moment, ob der Streit unter Eheleuten das Vorspiel für einen Mord war. Oder nur ein lautstarker Streit, der einen Tag später vergessen war.

Diese Konzentration auf einen Fall und das Gerichtsverfahren macht „Anatomie eines Falls“ zu einem Kriminalfilm, der seine Spannung über zweieinhalb Stunden halten kann. 

Anatomie eines Falls (Anatomie d’une chute, Frankreich 2023)

Regie: Justine Triet

Drehbuch: Justine Triet, Arthur Harari

mit Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner, Antoine Reinartz, Samuel Theis, Jehnny Beth

Länge: 151 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

 

Moviepilot über „Anatomie eines Falls“

AlloCiné über „Anatomie eines Falls“

Metacritic über „Anatomie eines Falls“

Rotten Tomatoes über „Anatomie eines Falls“

Wikipedia über „Anatomie eines Falls“ (deutsch, englisch, französisch)


TV-Tipp für den 23. August: Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel

August 22, 2023

Arte, 20.15

Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel (Onoda, 10 000 nuits dans la jungle, Frankreich/Japan/Deutschland/Belgien/Italien/Kambodscha 2021)

Regie: Arthur Harari

Drehbuch: Arthur Harari, Vincent Poymiro, Bernard Cendron (in Zusammenarbeit mit)

Während des Zweiten Weltkriegs wird der Japaner Onoda Hiroo auf der philippinischen Insel Lubang stationiert. Er und seine Einheit sollen gegen die Amerikaner kämpfen. Die Meldungen über das Kriegsende halten sie für Feindpropaganda. Sie ziehen sich zurück und kämpfen weiter. Tage, Wochen, Monate, Jahre, Jahrzehnte.

TV-Premiere. Arthur Harari konzentriert sich in seinem atmosphärischem Slow-Cinema-Biopic über den in Japan allgemein bekannten Hiro Onoda auf Onodas Leben Abseits der Zivilisation. Hararis gut dreistündiger Film ist nicht unproblematisch, aber in jedem Fall sehenswert.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Endô Yûya, Tsuda Kanji, Matsuura Yûya, Chiba Tetsuya, Katô Shinsuke, Inowaki Kai, Issey Ogata, Nakano Taïga, Suwa Nobuhiro, Yoshioka Mutsuo

Hinweise

Filmportal über „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“

Moviepilot über „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“

AlloCiné über „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“

Metacritic über „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“

Rotten Tomatoes über „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“

Wikipedia über „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“ (englisch, französisch)

Meine Besprechung von Arthur Hararis „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“ (Onoda, 10 000 nuits dans la jungle, Frankreich/Japan/Deutschland/Belgien/Italien/Kambodscha 2021)


Neu im Kino/Filmkritik: „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“, auf den Feind wartend

Juni 4, 2022

In Japan ist die Geschichte von Onoda Hiroo allgemein bekannt. Bei uns dürfte er unlängst durch Werner Herzogs Roman „Das Dämmern der Welt“ eine gewisse, eingeschränkte Bekanntheit erreicht haben. Denn Onoda ist eine archetypische Werner-Herzog-Figur.

Ende Dezember 1944 erhält der 1922 geborene Nachrichtenoffizier Onoda, zusammen mit anderen Soldaten, den Befehl auf der philippinischen Insel Lubang die Stellung gegen die angreifenden US-Truppen zu halten. Wie wir wissen, kapitulierte Japan am 15. August 1945. Das wäre auch der Moment gewesen, an dem Onoda und seine Truppe ihre Waffen hätten übergeben müssen. Aber sie halten die Meldungen dazu für Propaganda des Feindes. Sie ziehen sich in den Dschungel zurück. Mit der Zeit verlassen immer mehr Soldaten diese Einheit. Teils sterben sie, teils ergeben sie sich. Am Ende hält nur noch Onoda die Stellung. Erst 1974 konnte der junge Rucksacktouristen Suzuki Norio ihn überzeugen, dass der Krieg seit bereits fast dreißig Jahren zu Ende ist.

Arthur Harari („Dark Inclusion“) nahm sich jetzt ebenfalls die Geschichte von Onoda Hiroo vor. In seinem gut dreistündigem Film „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“ konzentriert er sich in langen, ruhigen Einstellungen auf Onoda und wie er im Dschungel überlebte. Onoda wird mit der Zeit zu einem wahren Naturburschen, der mit seiner Umwelt verschmilzt und sich nur von dem ernährt, was er im Dschungel vorfindet.

Mit der Zeit stellt sich allerdings auch zunehmend die Frage, weshalb Onoda an seiner Mission festhält. Er hat keinen Kontakt mehr zu seinen Befehlshabern. Die Versuche, ihn zur Kapitulation zu bewegen, hält er für Propaganda des Feindes. Er hat auch keine Begegnung mit dem Feind, der doch eigentlich in Kompaniestärke die Insel besetzen sollte. Die Begegnungen mit den Einheimischen werden im Film nur am Rand gestreift. Trotzdem glaubt Onoda, dass es in Kürze zu dem entscheidenden Angriff der US-Truppen kommen wird und dass er diesen Angriff abwehren kann. Daran hält er über Jahre und Jahrzehnte fest.

Harari deutet als Erklärungen für dieses, zugegeben, nicht wirklich erklärbare Handeln, Onodas Persönlichkeit, seine militärische Ausbildung und die japanische Kultur an. So gab es während des Zweiten Weltkriegs nur in Japan Kamikaze-Missionen, bei denen Piloten sich in das Feuer von US-Kriegsschiffen in den sicheren Tod stürzten.

Absolut kein Interesse hat Harari an Onodas problematischen Seiten. So werden die Morde, die Onoda und seine Männer auf Lubang verübten nicht thematisiert; es sieht sogar so aus, als ob die Aggression vollkommen grundlos von den Einheimischen ausgeht und sie sie aus dem Hinterhalt ermorden. Harari interessiert sich auch nicht für die mediale Aufmerksamkeit, die Onoda nach seiner Rückkehr erhielt und wie sein Handeln ideologisch interpretiert wurde. Als Onoda 2014 stirbt und seitdem ist er „eher ein Symbol, das von nationalistischen Konservativen und von der japanischen Nation bewundert wird, die ihre koloniale und kriegerische Vergangenheit nicht bereuen“ (Naoko Seriu, Dozentin für Neuere Geschichte, Tokio Universität für Auslandsstudien).

Das sind Fragen, die sich beim Betrachten des Films stellen. Die Antworten würden selbstverständlich zu einem Filmen führen, den Harari nicht drehen wollte. Er wandelt hier eher in den Pfaden von Werner Herzog; wenn er Slow Cinema machen würde. Im Mittelpunkt seines Films steht Onoda und wie er im Dschungel überlebt.

Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“ erhielt einen César für das beste Drehbuch und war auch als bester Film nominiert.

Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel (Onoda, 10 000 nuits dans la jungle, Frankreich/Japan/Deutschland/Belgien/Italien/Kambodscha 2021)

Regie: Arthur Harari

Drehbuch: Arthur Harari, Vincent Poymiro, Bernard Cendron (in Zusammenarbeit mit)

mit Endô Yûya, Tsuda Kanji, Matsuura Yûya, Chiba Tetsuya, Katô Shinsuke, Inowaki Kai, Issey Ogata, Nakano Taïga, Suwa Nobuhiro, Yoshioka Mutsuo

Länge: 169 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Filmportal über „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“

Moviepilot über „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“

AlloCiné über „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“

Metacritic über „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“

Rotten Tomatoes über „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“

Wikipedia über „Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel“ (englisch, französisch)