Neu im Kino/Filmkritik: Über Emily Atefs „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“

April 16, 2023

Im Sommer 1990 lebt die achtzehnjährige Maria in Thüringen bei ihrem Freund Johannes auf dem Hof seiner Eltern. Diese stehen der Beziehung aufgeschlossen gegenüber, haben sie in ihre Familie aufgenommen, ahnen aber auch, dass Johannes und Maria nicht zusammen bleiben werden. Er ist ein begeisterter Fotograf, der demnächst ein entsprechendes Studium beginnen möchte und dafür eine Mappe erstellt. Sie lebt in den Tag hinein. Sie hat keine Ziele und keine Interessen. Die Schule hat sie, kurz vor dem Abschluss, geschmissen. Auf dem Hof hilft sie auch nicht. Sie verbringt ihre Zeit im Moment vor allem mit der Lektüre von Fjodor Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“.

Als sie nach einem Slapstick-Autounfall, bei dem es keine Verletzten gibt und der Trabi danach immer noch fahrtüchtig ist, den mehr als doppelt so alten Henner trifft, ist sie fasziniert von ihm. Der knurrige Einsiedler betreibt den Nachbarhof und er soll ein Fraueneld sein. Das ist er allerdings nur in der blühenden Fantasie der Dörfler.

Maria und Henner beginnen eine destruktive Beziehung, die sie vor allen anderen geheim halten und die bis zum bitteren Ende ziemlich genau den erwartbaren Verlauf nimmt. Im Gedächtnis bleiben von dieser Liebesgeschichte vor allem die heute im Kino ungewöhnlich ausführlichen, freizügigen und drastischen Sexszenen, die viel über Maria, Henner und ihre Beziehung verraten. Sie können allerdings nicht die Frage beantworten, warum Maria bei diesem Grobian bleiben möchte.

Gelungener als diese Coming-of-Age-Geschichte ist Emily Atefs neuer Film „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ als Zustandsbeschreibung eines Stillstands. Aber es nicht der Stillstand, der als die Ruhe vor (oder nach) dem Sturm verstanden werden kann. Immerhin spielt die Filmgeschichte 1990 in der damals noch existierenden DDR. Einige Monate später gab es sie nicht mehr. Die DDR, ihr Ende und die damit verbundenen Hoffnungen und Sorgen der Ostdeutschen sind Atef ziemlich egal. In ein, zwei Sätzen wird das erwähnt. Ein Verwandter, der vor Jahren in den Westen flüchtete, besucht einmal kurz den Hof. Für die Filmgeschichte ist dieser Besuch unwichtig. Marias Mutter ist arbeitslos. Doch auch das kann jederzeit und überall passieren. Maria und Johannes fahren mal in den Westen. Johannes benutzt den Ausflug, um sich Zubehör für seine Kamera zu kaufen. Maria langweilt sich währenddessen im Eiscafé.

So mutiert der Hof und die thüringische Provinz zu einer austauschbaren Provinz, in der die Zeit stehen geblieben ist, Veränderungen höchsten verzögert ankommen und Jugendliche überlegen, wie sie dieser Hölle entkommen können. Atef zeigt einen bleiernen Zustand, der nach über zwei Stunden genau so endet, wie man es aus unzähligen anderen Coming-of-Age-Filmen kennt.

Irgendwann werden wir uns alles erzählen (Deutschland/Frankreich 2023)

Regie: Emily Atef

Drehbuch: Emily Atef, Daniela Krien

LV: Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen, 2011

mit Marlene Burow, Felix Kramer, Cedric Eich, Silke Bodenbender, Jördis Triebel, Florian Panzner, Christian Erdmann, Christine Schorn, Axel Werner

Länge: 133 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“

Moviepilot über „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“

Rotten Tomatoes über „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“

Wikipedia über „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“

Meine Besprechung von Emily Atefs „3 Tage in Quiberon“ (Deutschland 2018)


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: „Endzeit“ mit zwei jungen Frauen, vielen Zombies und einer Kräuterhexe

August 22, 2019

Zombies in der deutschen Provinz, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen? Warum nicht.

Nach einer weltweiten Katastrophe, die die Menschheit auf wenige, sehr wenige Überlebende dezimierte, jagen die Zombies in „Endzeit“ in Thüringen, zwischen Weimar und Jena, Menschen. In diesen beiden Städten haben sich die letzten Menschen vor den Zombies verschanzt. In Weimar geht man rabiat gegen die Zombies vor. Man tötet sie und alle die sich infiziert haben könnten. In Jena soll dagegen an einem Gegenmittel geforscht werden und es soll über eine friedliche Koexistenz zwischen Menschen und Zombies nachgedacht werden. Die einzige Verbindung zwischen den zwanzig Kilometer voneinander entfernt liegenden Städten ist ein unbemannter Versorgungszug.

In diesem verstecken sich, als der Zug Weimar verlässt, die 22-jährige Vivi (Gro Swantje Kohlhof) und die 26-jährige Eva (Maja Lehrer). Die taffe Kämpferin Eva wurde bei einem Zombieangriff verletzt. Sie hofft, dass ihr in Jena geholfen werden kann. Vivi ist das komplette Gegenteil von Eva. Sie macht sich Vorwürfe, weil sie ihre jüngere Schwester bei einem Zombieangriff nicht retten konnte. Sie ist auch etwas verpeilt und unbeholfen.

Während der Fahrt bleibt der Zug auf offener Strecke stehen.

Seit der Wiederkehr von Zombies in die Popkultur vor nun schon auch deutlich über zehn Jahren haben die Untoten sich durch alle Länder, Orte und Zeiten (Zombies im viktorianischen England? Warum nicht.) durchgebissen. Nur um Deutschland machten sie einen großen Bogen. Es gab, immerhin, 2010 den in Berlin spielenden Zombie-Film „Rammbock“. Und das war es dann auch schon.

Inzwischen ist die Welle etwas abgeebbt. „Die Nacht der lebenden Toten“-Regisseur George A. Romero, der Erfinder des modernen Zombies in der Popkultur, starb 2017. Im Juli beendete Robert Kirkman mit dem 193. Heft seine langlebige Comicserie „The Walking Dead“. Die TV-Serie läuft weiter und es werden weitere Ableger produziert. Die lange angekündigte Fortsetzung von „World War Z“ wird wohl nicht mehr gedreht werden.

Da kommt „Endzeit“ fast als Nachschlag. Der Film basiert auf Olivia Viewegs Comic „Endzeit“. Seinen Ursprung hatte er in ihrer 2011 entstandenen Diplomarbeit an der Bauhaus-Universität in Weimar. Danach wurde die Diplomarbeit auch veröffentlicht und später von ihr zu einem Drehbuch, das 2015 den Tankred-Dorst-Preis gewann, umgeschrieben. 2018 erschien Carlsen „Endzeit“ in einer deutlich erweiterten Comic-Fassung.

Fast gleichzeitig entstand der von Carolina Hellsgård inszenierte Film. Entsprechend eng miteinander verbunden sind Buch und Film. Der Film wirkt oft sogar, als habe man einfach den Comic als Storyboard genommen. Leider. Denn Comic und Film sind zwei unterschiedliche Medien. Dialoge, die in einem Comic funktionieren, wirken gesprochen hölzern. Details, die in einem gezeichneten Bild nicht weiter auffallen oder überhaupt nicht auftauchen, fallen im Film auf. So sind im Film beide Frauen erstaunlich unvorbereitet auf die Reise gegangen. Sie haben keine Waffen dabei. Sie haben nichts zu essen dabei (Gut, es sind ja nur zwanzig Kilometer mit dem Zug.). Eva hat eine nur halb gefüllte Wasserflasche dabei (im Hochsommer!). Vivi läuft mit Sandalen herum, mit denen ich noch nicht einmal vor die Haustür gehen würde.

Auf der Reise verhalten sie sich oft idiotisch. In der Nacht schlafen sie friedlich nebeneinander, anstatt dass eine Wache schiebt. Sie schlafen ungeschützt auf dem Boden. Bis sie sich Waffen und besseres Schuhwerk besorgen, vergeht viel Zeit.

Und warum verkehrt der Versorgungszug zwischen den beiden Städten ohne einen Fahrer und eine Wache? Schließlich muss die Strecke, selbstfahrende Züge hin, selbstfahrende Züge her, von auf den Gleisen herumlungernden Zombies geräumt werden.

Gut, das kann einfach erklärt werden: wenn ein Fahrer im Zug gewesen wäre, hätten Eva und Vivi nicht so einfach einsteigen können.

Diese Details und die Dialoge reißen einen immer wieder aus der Filmgeschichte heraus. In einem Comic stört das alles nicht. Schließlich wird die Realität in Comiczeichnungen immer stark vereinfacht. Gleichzeitig werden bestimmte Dinge betont.

Die Geschichte ist ein feministischer Zugriff auf das Genre, bei dem die beiden jungen Protagonistinnen kein Interesse an Männern haben. Diese tauchen nur als Neben-Nebenfigur oder Zombie (wobei auch hier viele Frauen dabei sind) auf. Stattdessen begegnen Vivi und Eva im Niemandsland zwischen Weimar und Jena einer Frau (im Film gespielt von Trine Dyrholm), die eine tiefe Koexistenz mit der Pflanzenwelt hat und Vivi gerne bei sich aufnähme.

Gleichzeitig erzählt „Endzeit“ eine Coming-of-Age-Geschichte, die im Buch offensichtlicher und glaubwürdiger als im Film ist. Denn Vieweg zeichnete Vivi und Eva mit ihren großen Augen und ihren mädchenhaften, fast noch kindlichen Körpern als junge Menschen, die irgendwo im Teenageralter sind. Im Film sind sie deutlich älter. Vivi ist 22 Jahre, Eva 26. Damit sind beide erwachsene Menschen.

Während der Comic die Zombieapokalypse aus feministischer und ökologischer Perspektive betrachtet, scheitert der Film an seinen hölzernen Dialogen, den zu vielen nicht plausiblen Details, einer zu sparsamen Charakterisierung der beiden Hauptfiguren und einer damit verbundenen thematischen Diffusität. So schwankt der Film unentschlossen zwischen Zombiefilm, Coming-of-Age-Drama, düsterem Märchen und romantischer Naturverklärung.

P. S. für den Horrorfan: Die Zombieangriffe sind spärlich und oft schnell vorbei. Der Suspensefaktor ist ebenfalls überschaubar.

Endzeit (Deutschland 2018)

Regie: Carolina Hellsgård

Drehbuch: Olivia Vieweg

LV: Olivia Vieweg: Endzeit, 2018

mit Gro Swantje Kohlhof, Maja Lehrer, Trine Dyrholm, Barbara Philipp, Axel Werner, Amy Schuk, Muriel Wimmer

Länge: 90 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Die Vorlage

Olivia Vieweg: Endzeit

Carlsen, 2018

288 Seiten

22 Euro

Hinweise

Deutsche Facebook-Seite zum Film

Filmportal über „Endzeit“

Moviepilot über „Endzeit“

Metacritic über „Endzeit“

Rotten Tomatoes über „Endzeit“

Wikipedia über „Endzeit“

Homepage von Olivia Vieweg