Neu im Kino/Filmkritik: 50 % Coen: der lesbische Road-Trip „Drive-Away Dolls“

März 7, 2024

Über Jahrzehnte drehten die Coen-Brüder gemeinsam Filme. Viele Klassiker und wenige, sehr wenige Flops. Dann nahmen (nehmen?) sie eine Auszeit voneinander und drehten mit ihren Frauen einen Spielfilm. Joel Coen inszenierte mit seiner Ehefrau Frances McDormand die Shakespeare-Verfilmung „Macbeth“. Ein künstlerischer Erfolg. Ethan Coen schrieb mit seiner Ehefrau Tricia Cooke, die bei etlichen Coen-Filmen am Schnitt beteiligt war, die Komödie „Drive-Away Dolls“, die – auf den ersten Blick – an die Coen-Frühwerke „Blood Simple“ und „Arizona Junior“ anknüpft.

In der von ihm inszenierten Komödie machen sich Ende 1999 die Mittzwanzigerinnen Jamie (Margaret Qualley) und Marian (Geraldine Viswanathan) von Philadelphia aus auf den Weg nach Tallahassee, Florida. Jamie ist der unbekümmert lebenslustige und sehr sexpositive Teil des Duos. Für sie wird die improvisierte Fahrt mit jedem Umweg und jeder Pause, die der Beginn zu einem großartigen Abenteuer sein kann, besser.

Marian ist das Gegenteil. Sie ist eine intellektuelle Leseratte, die während der Fahrt eine sehr dicke Ausgabe Henry James‘ „The Europeans“ liest. Ständig blickt sie so genervt und miesepetrig in die Welt, dass sie jeden potentiellen Verehrer sofort abschreckt. Und selbstverständlich ist für sie der Weg nicht das Ziel, sondern nur eine nervige Verzögerung.

In einem gemieteten Dodge Aries machen sich die beiden Lesben auf den Weg nach Florida. Dummerweise hat ihnen der Autovermieter den falschen Dodge gegeben. Denn im Kofferraum des Mietwagens ist ein Koffer, für den sich einige Gangster interessieren. Der Chef der Gangster, der nur „The Chief“ heißt, beauftragt zwei seiner Männer mit der Wiederbeschaffung des Koffers. Arliss und Flint sind, bei allen Unterschieden, brutal und kreuzdämlich; – wie eigentlich alle Männer in diesem Film.

Drive-Away Dolls“ knüpft, wie gesagt, stilistisch an die schwarzhumorigen, sich einen Dreck um Tabus und Anstand kümmernden Frühwerke der Coen-Brüder an. Nur dass dieses Mal nicht ein Mann und eine Frau oder zwei Männer, sondern zwei Frauen sich auf einen Roadtrip begeben und sie Lesben sind. Es gibt also eine ordentliche Portion gleichgeschlechtlichen Sex und entsprechende Witze darüber. Ohne diesen Geschlechterwechsel könnte die Komödie genausogut in den achtziger Jahren (plus/minus ein Jahrzehnt) entstanden sein. Es ist eine Liebeerklärung an diese Filme, diese Regiesseure und auch ältere Noirs und Pulp-Geschichten, die schon in diesen „Pulp Fiction“-Filmen zitiert wurden.

Die Idee für diesen lesbischen Road-Trip hatten Tricia Cooke und Ethan Coen bereits vor ungefähr zwanzig Jahren. Die Geschichte sollte auch einmal von einer Regisseurin verfilmt werden. Der Plan zerschlug sich. Während der Coronavirus-Pandemie nahmen sie sich das zur Seite gelegte Projekt noch einmal vor, schrieben das finale Drehbuch und verfilmten es als eine ziemlich enttäuschende Komödie. Dies beginnt schon mit der Story, die eine Verfolgungsjagd schildert, bei der die potentiellen Opfer nicht wissen, dass sie gejagt werden. Über einen großen Teil der Strecke wissen sie auch nicht, dass in ihrem Kofferraum mehr als ein Ersatzreifen ist. Entsprechend unbekümmert springen Jamie und Marian von einem Bett in das nächste, während die Gangster ihnen mordend folgen. Die Gags wiederholen damalige Gags über dumme Gangster, die wegen ihrer hirnlosen Brutalität so furchterregend und gleichzeitig furchterregend lustig sind. Dass die beiden Heldinnen Lesben sind, ist gut für einige Gags, aber nicht abendfüllend. Die meisten Gags sind nicht so wahnsinnig witzig, eher platt und es geht viel zu oft um „Sex“ und viel zu selten um andere Dinge.

Das Ergebnis ist eine Groteske mit angezogener Handbremse (man will ja nicht die Gefühle von irgendwelchen Minderheiten oder sensiblen Twenty-Somethings verletzten), viel Leerlauf und dem Gefühl, dass auf dem Road-Trip viel zu viele Gelegenheiten für gute Witze grundlos verschenkt werden. Da werden die 84 Minuten zu einer Geduldsprobe.

Drive-Away Dolls (Drive-Away Dolls, USA 2024)

Regie: Ethan Coen

Drehbuch: Ethan Coen, Tricia Cooke

mit Margaret Qualley, Geraldine Viswanathan, Joey Slotnick, CJ Wilson, Colman Domingo, Beanie Feldstein, Bill Camp, Annie Gonzalez, Pedro Pascal, Matt Damon, Miley Cyrus

Länge: 84 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Drive-Away Dolls“

Metacritic über „Drive-Away Dolls“

Rotten Tomatoes über „Drive-Away Dolls“

Wikipedia über „Drive-Away Dolls“ (deutsch, englisch) und die Coen-Brüder (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Bill Green/Ben Peskoe/Will Russell/Scott Shuffitts „Ich bin ein Lebowski, du bist ein Lebowski – Die ganze Welt des Big Lebowski“ (I’m a Lebowski, you’re a Lebowski, 2007)

Meine Besprechung des Coen-Films „Blood Simple – Director’s Cut“ (Blood Simple, USA 1984/2000)

Meine Besprechung von Michael Hoffmans “Gambit – Der Masterplan” (Gambit, USA 2012 – nach einem Drehbuch von Joel und Ethan Coen)

Meine Besprechung des Coen-Films “Inside Llewyn Davis” (Inside Llewyn Davis, USA/Frankreich  2013)

Meine Besprechung des Coen-Films „Hail, Caesar!“ (Hail, Caesar!, USA/Großbritannien 2016)

Meine Besprechung von Joel Coens „Macbeth“ (The Tragedy of Macbeth, USA 2021)

Die Coen-Brüder in der Kriminalakte

 

Auch schön


Neu im Kino/Filmkritik: „Lady Bird“, eine Jugend in der Provinz

April 20, 2018

Anybody who talks about California hedonism has never spent a Christmas in Sacramento.

Joan Didion

Greta Gerwig ist nicht Lady Bird. Sie inszenierte den Film nur nach ihrem Drehbuch und, um jetzt gleich die offensichtliche Frage zu beantworten, obwohl der Film 2002 in Sacramento spielt, ist er nicht autobiographisch. Jedenfalls nicht im strengen Sinn. „Lady Bird“ erzählt eine erfundene Geschichte über eine junge Frau, die, wie Gerwig, in Sacramento lebt, auf eine katholische Mädchenschule geht und nach New York will.

Lady Bird ist Christine McPherson, gespielt von Saoirse Ronan und, nun, sie ist Lady Bird. Ein Teenager im letzten Highschooljahr. Ausgesetzt all den Gefühlsstürmen und Unsicherheiten, die man in diesem Alter hat. Vor allem wenn man aus einer armen Familie kommt und sich als Outcast fühlt. Ihre Mutter verdient als Krankenschwester das Geld für die Familie. Sie will ihrer Tochter die Flausen austreiben und eine realistische Perspektive auf ihr künftiges Leben vermitteln. Sie haben einfach nicht das Geld, um ihrer Tochter das teure Studium in New York zu bezahlen. Ihr gebildeter, arbeitsloser Vater sieht das wesentlich entspannter und verständnisvoller. Und ihr Bruder ist gar nicht ihr Bruder, sondern adoptiert und konkurriert mit ihrem Vater um die gleichen IT-Stellen.

An der Schule kämpft sie sich durch, hängt mit ihrer Freundin ab, wäre gerne bei dem coolen Jungs und Mädchen und natürlich geht es um den ersten Sex.

So gesagt unterscheidet sich „Lady Bird“ nicht von unzähligen anderen Highschool-Komödien. Sie erzählen Episoden aus dem Leben Jugendlicher in einer bestimmten Periode ihres Lebens. Meistens sind die Filme Ensemblefilme. Das ermöglicht es dem Regisseur, viele verschiedene Geschichten, Episoden und auch Perspektiven über das Erwachsenwerden einzubringen. Meistens ist es auch ein rein männlicher Blick, genau gesagt: der Blick des weißen Mannes.

Fast immer enden diese Filme mit einem von Außen bestimmten Ereignis, wie der Abschlussfeier oder dem Tag nach der letzten Nacht in dem geliebt/gehassten, vertrauten Geburtsort, der dann „Dazed and Confused“ in eine fremde Welt verlassen wird. Und, auch wenn wir die US-amerikanischen Schulen nur aus den Filmen kennen, sind die Filme immer wie ein Blättern in einem Bildband oder dem Karton mit den Jugendfotos, die Erinnerungen wecken.

Greta Gerwig erzählt ihren Film dagegen aus der weiblichen Perspektive und das eröffnet dem Genre neue Perspektiven. Sie hat einen sehr wahrhaftigen und authentischen Blick auf ihre Charaktere, die fast durchgängig Frauen sind. Auch die Lehrer sind, immerhin besucht Lady Bird eine katholische Mädchenschule, weiblich. Und wann hat man zuletzt eine Nonne als Lehrerin und als durchaus positive Respektsperson in einem Film gesehen? Die Männer, vor allem die jungen Männer, müssen sich da als Objekt der Begierde mit Nebenrollen begnügen.

Keine Nebenrolle haben dagegen, – auch hier unterscheidet „Lady Bird“ sich von anderen Highschool-Komödien -, die Eltern von Lady Bird. Vor allem ihre Beziehung zu ihrer Mutter, mit der sie eine wahre Hassliebe verbindet, nimmt viel Leinwandzeit in Anspruch.

So werden die Episoden aus Lady Birds chaotischem (Gefühls)Leben mehr als in anderen Highschool-Komödien zu einer Geschichte. Gerwig zeichnet eine Entwicklung nach, die erst in New York endet. Jedenfalls in diesem Film. Wer will kann nämlich in „Frances Ha“ (wo Gerwig Co-Autorin war und die Hauptrolle spielte), ohne große Anstrengungen, eine Art Weiterzählung von „Lady Bird“ sehen.

Am Ende von „Lady Bird“ erscheint Sacramento gar nicht so schlimm, wie Joan Didion, eine andere bekannte gebürtige Sacramentoerin (Ist das ein Wort?), behauptet. Jedenfalls nicht schlimmer als irgendein x-beliebiges Provinzkaff.

Lady Bird (Lady Bird, USA 2017)

Regie: Greta Gerwig

Drehbuch: Greta Gerwig

mit Saoirse Ronan, Laurie Metcalf, Tracy Letts, Lucas Hedges, Timothée Chalamet, Beanie Feldstein, Stephen McKinley Henderson, Lois Smith, Odeya Rush, Jordan Rodrigues, Marielle Scott

Länge: 95 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

Deutsche Facebook-Seite zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Lady Bird“

Metacritic über „Lady Bird“

Rotten Tomatoes über „Lady Bird“

Wikipedia über „Lady Bird“ (deutsch, englisch)

History vs. Hollywood über „Lady Bird“ (oder Wie autobiographisch ist Greta Gerwigs fantastisches Regiedebüt?)

Realizing Lady Bird (Achtung: enthält Spoiler und nervige Musik)

https://www.youtube.com/watch?v=xT23PMOSnAk