Neu im Kino/Filmkritik: Was fühlt Aschenputtels „The ugly Stepsister“?

Juni 6, 2025

Die Geschichte von Aschenputtel dürfte allgemein bekannt sein. Schließlich wurde sie in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder neu erzählt, variiert und interpretiert. Mal besser – so gehört „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ seit Ewigkeiten fest zum TV-Weihnachtsprogramm und Walt Disneys „Cinderella“ wird auch immer wieder gern gezeigt – mal schlechter.

Jetzt erzählt Emilie Blichfeldt in ihrem Spielfilmdebüt „The ugly Stepsister“ das von den Brüdern Grimm aufgeschriebene Märchen aus der Perspektive der bösen Stiefschwester als Body-Horrorfilm.

Bei ihr beginnt die Geschichte so: Elvira steht im Schatten ihrer viel schöneren Stiefschwester Agnes. Weil sie und ihre Mutter durch eine Heirat und den plötzlichen Tod des Gemahls ihr gesamtes Vermögen verloren haben, wäre die Heirat mit Prinz Julian ein Weg aus ihrer finanziellen Malaise. In wenigen Wochen veranstaltet der schöne und allseits begehrte Junggeselle einen Ball. Aus den dort anwesenden Frauen will er seine Frau auswählen. Um ihre Chancen zu steigern, lässt Elvira mehrere Schönheitsoperationen an sich vornehmen. Als erstes erhält sie eine schönere Nase.

Blichfeldt konzentriert sich in ihrer mit dem emotionslosen Blick eines Forschers erzählten Interpretation des bekannten Märchens auf die nachvollziehbaren Gründe, warum Elvira tut, was sie tut. Sie erzählt ihre Geschichte entlang der Frage, was man bereit ist, zu tun, um seine Ziele zu erreichen. Sie fragt auch nach den von Männern bestimmten Schönheitsidealen und welche Qualen Frauen auf sich nehmen um sie zu erfüllen. Denn Elvira erleidet die ersten Schönheitsoperationen nicht nur, sondern sie fordert sie zunehmend ein, um ihre Ziele zu erreichen. Das wird besonders nach dem Ball deutlich, wenn sie, um sich einen Schuh anziehen zu können, das Schlachterbeil an ihren Zehen ansetzt.

Diese ‚Operationen‘ zeigt Blichfeldt in einer Drastik, die wir so auch aus anderen von Frauen inszenierten Body-Horrorfilmen mit feministischer Agenda kennen, wie jüngst in Coralie Fargeats „The Substance“ oder in Julia Ducournaus „Titane“.

In dem Horrorfilm steht die langsam verrückt werdende Protagonistin so sehr im Mittelpunkt der Geschichte, dass die anderen Figuren zu eindimensionalen Stichwortgebern werden. Die Frauen, wie Elviras Mutter, Schwester und Stiefschwester, ihre Mitbewerberinnen und die Lehrerin in einer Tanzschule sind spartanischer als nötig gezeichnet. Die wenigen im Film auftauchenden Männer sind reine Karikaturen toxischer Männlichkeit. Sie erfüllen vor allem in der Ballszene im letzten Drittel des Films ihren Zweck, wenn sie die Frauen wie Vieh auf einer Auktion nach ihrem Aussehen beurteilen.

Absolut störend ist die Musik, die nerviger als eine beliebig auf die Tonspur eines YouTube-Videos geklatschte kostenfreie Musikspur ist.

Wer darüber hinweghören kann (mir fiel es schwer), wird eine verstörende und zum Nachdenken anregende feministische Neuinterpretation des Märchens mit satirischen Spitzen erleben.

Regisseurin Emilie Blichfeldt über ihren Film:

In „The ugly Stepsister“ erforsche ich die Tyrannei der Schönheit und deren Auswirkungen auf junge Frauen. Das übergeordnete Konzept, das ich als „Beauty Horror“ bezeichne, wurde vom Body-Horror-Genre und der misogynen Doktrin „Wer schön sein will, muss leiden“ inspiriert. Es ist ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt, nachdem ich selbst jahrelang mit meinem Körperbild zu kämpfen hatte und meinen Platz in der Frauenwelt erst finden musste. Mit dieser Geschichte möchte ich das Publikum in Elviras Erfahrungen eintauchen lassen und Mitgefühl, Unbehagen und Reflexion auslösen. Indem ich ihre schmerzhaften Empfindungen in den Körpern der Zuschauer spiegele, hoffe ich, eine instinktive Verbindung herzustellen, die zum Nachdenken anregt.

Elviras Reise verdeutlicht die Qualen, die das Festhalten an unerreichbaren körperlichen Normen verursacht. Ich habe mich von David Cronenbergs Ansatz für das Genre inspirieren lassen: Körperliche Verwandlungen dienen bei ihm als Metaphern für die Schwächen, Dilemmata und inneren Ängste seiner Figuren, oder als politischer Kommentar über den Einfluss der Gesellschaft auf das Individuum.

The ugly Stepsister (Den stygge stesøsteren, Norwegen/Dänemark/Rumänien/Polen 2025)

Regie: Emilie Blichfeldt

Drehbuch: Emilie Blichfeldt

mit Lea Myren, Thea Sofie Loch Næss, Ane Dahl Torp, Isac Calmroth, Flo Fagerli

Länge: 109 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „The ugly Stepsister“

Metacritic über „The ugly Stepsister“

Rotten Tomatoes über „The ugly Stepsister“

Wikipedia über „The ugly Stepsister“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „The ugly Stepsister“


Neu im Kino/Filmkritik: Über Disneys Live-Action-Musical „Schneewittchen“

März 21, 2025

Schneewittchen und die 7 Zwerge“ (Snow White and the Seven Dwarfs) war 1937 der erste spielfilmlange Trickfilm von Walt Disney und ein gigantischer Erfolg an der Kinokasse. Der deutsche Kinostart war am 24. Februar 1950.

In dem Film wird die aus dem Märchen der Brüder Grimm allseits bekannte Geschichte von Schneewittchen, der bösen Stiefmutter, dem vergifteten Apfel und den sieben Zwergen mit Gesang und langen, die Geschichte oft nicht voran bringenden Episoden erzählt.

Das jetzt anlaufende Realfilm-Remake dieses Disney-Films, inszeniert von Marc Webb („The Amazing Spider-Man“), folgt dem bekannten Märchen und dem Trickfilm. Im Gegensatz zu früheren Disney-Live-Action-Filmen, die einfach nur den Trickfilm mit anderer Technik neu inszenierten, baut Webb die Geschichte aus und interpretiert einige ikonische Szenen neu. Sein Remake ist, mit Abspann, eine knappe halbe Stunde länger als der ursprüngliche Film. Einige der Neuerungen sind gelungen, einige nicht, wobei gerade die Szenen, die das Original direkt zitieren und anders erzählen, weitgehend misslungen sind. Die gänzlich neuen Szenen und radikalen Neuinterpretationen sind gelungener, bleiben aber auf halbe Strecke stehen. Es sind interessante Ideen und Skizzen, aus denen etwas hätte werden können.

Gerade diese Unentschlossenheit trägt zu dem zwiespältigen Gesamteindruck bei. So wird am Anfang mehr über Schneewittchens Leben mit ihren Eltern und am Hof erzählt. In dem Moment bekommen Schneewittchen (Rachel Zegler) und die böse Stiefmutter, die spätere Böse Königin (Gal Gadot), mehr Tiefe. Auch über den Prinzen, der Schneewittchen am Ende küsst, erfahren wir mehr. Jetzt ist er kein Prinz mehr, sondern ein Robin-Hood-artiger Räuber, der Lebensmittel aus dem Schloss stiehlt. Denn die Böse Königin beutet ihre Untergebenen gnadenlos aus. Nur durch Diebstähle können er und seine Weggefährten überleben.

Bis es zur ersten Begegnung zwischen Schneewittchen und den Zwergen kommt, vergeht eine gute halbe Stunde. Die im Trickfilm immer noch sehr gruseligen Erlebnisse von Schneewittchen im nächtlichen Wald dauern jetzt nur wenige Sekunden und sind deutlich weniger gruselig. Wenn Schneewittchen dann das Haus der Zwerge betritt, wird auf die ikonische, heute natürlich veraltete, aber erzählerisch immer noch sehr wirksame, sehr gelungene und vieles etablierende Szene des Originals verzichtet. Zur Erinnerung: Im Original erkundet Schneewittchen das Haus, in dem alles so klein ist. Sie macht sich Gedanken über die in ihm lebenden Kinder und ihre auf den Betten stehenden Namen. Sie, die am Hof von der bösen Stiefmutter gezwungen wurde, als Dienstmagd vor allem zu putzen, ist über das Chaos in dem Haus schockiert. Sie putzt das gesamte Haus und legt sich anschließend müde in drei nebeneinander stehende Zwergenbetten. Weil heute eine Frau, die sich ausschließlich über Hausarbeiten definiert, ein veraltetes, konservatives Frauenbild symbolisiert, putzt Schneewittchen jetzt nicht mehr das Haus. Sie bemerkt nur noch die Unordnung und den Schmutz in dem Haus und legt sich ins Bett.

Die darauf folgende Szene, wenn die Zwerge nach ihrer Arbeit in ihr Haus zurückkehren, hat im Remake dann auch nicht mehr die Wirkung der ursprünglichen Szene. In dem Trickfilm bemerken die Zwerge natürlich sofort, dass jemand in ihrem Haus war. Sie fragen sich, wer das war, was er gestohlen hat und ob er vielleicht noch in dem Haus ist und ihnen etwas antun will. Die Macher können hier eine schöne lange und spannende Szene präsentieren, in der wie Zwerge genauer kennen lernen. Im Remake betreten sie ihr Haus und bemerken erst als sie ihr Schlafzimmer betreten, dass jemand Fremdes in ihrem Haus ist.

Im Original gibt es eine lange Geschichte, die uns gut unterhält und in der wir viel über die Figuren erfahren. Im Remake nicht.

Die gruseligen Szenen des Trickfilms wurden übernommen, allerdings in einer deutlich kindgerechteren und wirkungsloseren Version. So ist Schneewittchens schon erwähnte Flucht durch den nächtlichen Wald deutlich weniger alptraumhaft. Gleiches gilt für den Höhepunkt. Nachdem die böse Stiefmutter erfährt, dass Schneewittchen noch lebt. Sie verwandelt sich in eine alte Frau und will Schneewittchen mit einem Apfel vergiften. Im Trickfilm ist sie fortan eine wahre Schreckgestalt, eine Hexe, die Alpträume verursachen kann. Im Realfilm ist sie, für wenige Minuten, Gal Gadot mit einigen Falten.

Solche Verschlechterungen ziehen sich bei den Neuinterpretationen der aus dem Original bekannten Szenen durch den gesamten Film.

Gerade in den neuen Szenen in Webbs Film über die im Wald lebende Räuberbande, ihren Kampf gegen die Königin und das nicht gezeigte Leid der von ihr unterdrückten Bevölkerung drängt sich eine politische Interpretation des Films an, der erstaunlich mühelos auf die aktuelle Lage in den USA angewandt werden kann.

In dieser Interpretation – und nur diese Interpretation ist widerspruchsfrei möglich – führt Schneewittchen eine breite Koalition gesellschaftlicher Minderheiten, Außenseiter, Arbeiter und Unterdrückter an, die am Ende gegen die nur auf den äußeren Schein und die eigene Bereicherung fixierte Böse Königin kämpfen. Schneewittchen sieht in diesen Momenten sogar wie eine Zwillingsschwester der demokratischen Politikerin Alexandria Ocasio Cortez, kurz AOC, aus. Dabei wurde der Film zu einer Zeit geschrieben und gedreht – die Haupt-Dreharbeiten waren von Oktober 2021 bis Februar 2022 – als eine Wiederwahl von Donald Trump noch nicht einmal eine finstere Utopie war.

Den aktuellen, vor allem in den USA lautstark geführten Presserummel über politische Äußerungen von Rachel Zegler und Gal Gadot, Beschwerden von Kleinwüchsigen über die Nicht-Beschäftigung von ihnen als Zwerge zugunsten von CGI-Zwergen, Kampagnen rassistischer Fans, denen Rachel Zegler (die dem Trickfilm-Schneewittchen sehr ähnelt) nicht Weiß genug ist undsoweiter habe ich jetzt weggelassen. Wer will kann sie im Rolling Stone nachlesen. Möglicherweise beeinträchtigen diese Debatten vor allem in den USA das Einspielergebnis des Films. Langfristig ist das egal und „Schneewittchen“ könnte, trotz seiner Mängel, Kompromisse und bestenfalls halbherzigen Neuerungen, in einigen Jahren einer der Disney-Filme sein, die Eltern sich immer wieder mit ihren Kinder ansehen müssen.

Schneewittchen (Snow White, USA 2025)

Regie: Marc Webb

Drehbuch: Erin Cressida Wilson

mit Rachel Zegler, Andrew Burnap, Gal Gadot

Länge: 109 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Schneewittchen“

Metacritic über „Schneewittchen“

Rotten Tomatoes über „Schneewittchen“

Wikipedia über „Schneewittchen“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Marc Webbs „The Amazing Spider-Man“ (The Amazing Spider-Man, USA 2012)

Meine Besprechung von Marc Webbs „The Amazing Spider-Man 2: Rise of Electro“ (The Amazing Spider-Man 2: Rise of Electro, USA 2013)