Neu im Kino/Filmkritik: Über Alice Rohrwachers „La Chimera“

April 11, 2024

Es heißt, die Geschichte von „La Chimera“ spiele in Italien in den 80er Jahren. Aber es ist ein Italien, das wie ein Fantasieland wirkt. Sicher, gedreht wurde in existierenden Landschaften in existierenden Gebäuden, aber nie sieht es nach den real existierenden 80er Jahren aus. Alles sieht wie ein über Jahrzehnte konserviertes Nachkriegsitalien zwischen Neorealismus, Felllini und etwas Pasolini aus. Eine alternde Aristokratin zelebriert in einer Villa, die mehr Ruine als Villa ist, einen aristokratischen Lebensstil. Arthur, so etwas wie der Protagonist der Geschichte, ist ein Ausländer unklarer, möglicherweise britischer Herkunft. Er lebt in einem an die Stadtmauer geklatschten Windschutz, der kaum Schutz vor dem Wetter bietet und sogar im Mittelalter als ärmlich gegolten hätte. Er ist der Anführer einer Bande ziemlich erfolgloser einheimischer Grabräuber. Mit einer Wünschelrute kann er in Etrurien Gräber finden. In ihnen sind wertvolle Grabbeigaben. Sie plündern die Gräber ohne einen Funken Kunstverstand und verkaufen die Beute anschließend für einige Lire auf dem Schwarzmarkt. Aber Arthur ist kein normaler Grabräuber. Seine von ihm gesuchte Chimäre sieht wie eine Frau aus, die er verloren hat und die er hinter dem Tor zum Jenseits hofft zu finden.

Und wer jetzt schon entnervt abwinkt, wird an „La Chimera“ keine Freude haben. Alice Rohrwacher neuer Film ist, nach „Land der Wunder“ und „Glücklich wie Lazzaro“, der Abschluss ihrer Trilogie über das ländliche Italien. An einem schnöden Realismus oder einer einfach fassbaren Sozialkritik ist sie nicht interessiert. Ihr Realismus endet in „La Chimera“ mit den Drehorten und der in Italien real vorhandenen Grabräuberei. Danach ist der Schritt in fantastische und magische Welten, in denen die Gesetze der Logik und der Rationalität nicht gelten, schnell vollzogen. Zwischen diesen Welten, der Gegenwart und der Vergangenheit, mäandert der Film, wenig bis überhaupt nicht an Erklärungen interessiert, vor sich hin.

Das bewegt sich eigenständig in einem eigenen erzählerischem, an italienische Erzähltraditionen anknüpfendem Kosmos. Vielen Kritikern gefiel das sehr gut. Mir blieb der sich daraus ergebende Reiz weitgehend verborgen.

La Chimera (La Chimera, Italien/Frankreich/Schweiz 2023)

Regie: Alice Rohrwacher

Drehbuch: Alice Rohrwacher

mit Josh O‘Connor, Carol Duarte, Vincenzo Nemolato, Isabella Rossellini, Alba Rohrwacher, Yile Yara Vianello, Lou Roy-Lecollinet

Länge: 133 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „La Chimera“

Metacritic über „La Chimera“

Rotten Tomatoes über „La Chimera“

Wikipedia über „La Chimera“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Alice Rohrwachers „Glücklich wie Lazzaro“ (Lazzaro felice, Italien/Deutschland/Frankreich/Schweiz 2018)


Neu im Kino/Filmkritik: Das tropische Melodrama „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“

Dezember 27, 2019

Nach seiner Langzeitbeobachtung „Tempelhof THF“ über das Leben von Asylbewerbern in der Sammelunterkunft im ehemaligen Flughafen Tempelhof in Berlin kehrt Karim Aïnouz zum Spielfilm zurück und wenn nicht beide Filme in seiner Filmographie nebeneinander stünden, würde man nicht vermuten, dass beide Filme vom gleichen Regisseur gemacht wurden. Dabei hat sein neuer Film „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ durchaus einen dokumentarischen Blick mit dem er die fünfziger Jahre in Rio de Janeiro und die damaligen gesellschaftlichen Strukturen wieder aufleben lässt. Es sind, wie damals auch in Deutschland, Strukturen, die Frauen eine passive Rolle zuwiesen.

1950 sind Eurídice (Carol Duarte) und Guida Gusmão (Julia Stockler) nicht nur Schwestern, sondern unzertrennlich und an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sie haben Träume, die jedes Mädchen hat. Und einen Vater, der mit den Ideen seiner Töchter nichts anfangen kann. Sie sollen sich in die von ihm gutgehießenen Traditionen einfügen, die auf die Heirat mit dem richtigen Mann und einem Leben als ihn umsorgende Hausfrau hinauslaufen.

Aber Eurídice will Konzertpianistin werden und Guida will ein Leben in Freiheit und voll sexueller Erfüllung. Entsprechend exzessiv will sie am Nachtleben teilhaben. Ihre Schwester deckt sie bei den nächtlichen Ausflügen. Als sie sich in einen Seemann verliebt, brennt sie mit ihm durch.

Wenige Monate später kehrt Guida zurück. Der Seemann hat sie verlassen und sie ist schwanger. Ihr Vater weist sie brüsk ab. Fortan verhindert er die Kontaktaufnahmen zwischen den beiden Schwestern.

Je länger Aïnouz die getrennt voneinander laufenden Leben der beiden Schwestern verfolgt, umso größere Probleme hatte ich mit der Konstruktion der Geschichte. Immerhin leben sie in einer Stadt. Da sollen sie in all den Jahren und Jahrzehnten, über die sich die Geschichte erstreckt, nicht noch mindestens einmal versucht haben, miteinander in Kontakt zu treten? Vor allem weil Guida ein neues Leben in einer verrufenen Gegend beginnt, und Eurídice, die traditionell verheiratet wird, am Filmanfang als unzertrennliche Seelenverwandte geschildert werden. Da sollte doch, neben all den Briefen, auch mal ein Telefonanruf oder ein Hausbesuch möglich gewesen sein.

Sehenswert ist Aïnouz‘ ‚tropisches Melodram‘ (Fassbinder-Bewunderer Aïnouz über seinen Film), dank der beiden starken Hauptfiguren, ihren akkurat nachgezeichneten unterschiedlichen Lebenswegen und der feinfühligen Inszenierung trotzdem. Wegen der Bilder empfiehlt sich die große Leinwand. In Cannes wurde „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ in der Sektion Un Certain Regard als bester Film ausgezeichnet.

Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão (A Vida Invisível de Eurídice Gusmão, Brasilien/Deutschland 2019)

Regie: Karim Aïnouz

Drehbuch: Murilo Hauser, Inés Bortagaray, Karim Aïnouz

LV: Martha Batalha: A Vida Invisível de Eurídice Gusmão, 2016 (Die vielen Talente der Schwestern Gusmão)

mit Julia Stockler, Carol Duarte, Gregorio Duvivier, Bárbara Santos, Flávia Gusmão, Maria Manoella, António Fonseca

Länge: 140 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Filmportal über „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“

Moviepilot über „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“

Metacritic über „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“

Rotten Tomatoes über „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“

Wikipedia über „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Karim Ainouz‘ „Zentralflughafen THF“ (Deutschland/Frankreich/Brasilien 2018)