Neu im Kino/Filmkritik: Über Asli Özarslans Spielfilmdebüt „Ellbogen“

September 5, 2024

Es passiert selten, aber ab und zu: ein Jugendfilm, der für Jugendliche gemacht wurde, erhält von der FSK eine Freigabe, nach der Jugendliche den Film nicht sehen dürfen. Dabei wurde „Ellbogen“ seit seiner Premiere auf der Berlinale in der Sektion „Generation 14plus“ auf Kinder- und Jugendfilmfestivals gezeigt, von Jugendlichen diskutiert und ausgezeichnet. Unter anderem mit dem Goldenen Spatz auf dem Deutschen Kinder Medien Festival. Die Festivaljury besteht aus Kindern. Und damit aus Menschen, die jetzt „Ellbogen“ im Kino nicht mehr sehen dürfen, weil der Film ‚frei ab 16 Jahren‘ ist. Lehrer dürfen ihn in der Schule selbstverständlich auch erst verwenden, wenn die Schüler älter als 16 Jahre sind.

Die FSK schreibt in ihrer Freigabebegründung: „Der Film hat eine durchgehend angespannte Grundstimmung und stellt eine Jugendliche in den Mittelpunkt, die ihr negatives und gewalttätiges Verhalten weder hinterfragt noch bereut.“

Die Jugendliche ist Hazal. An ihrem 18. Geburtstag will sie mit ihren beiden besten Freundinnen in einer angesagten Berliner Disco feiern. Sie werden nicht hineingelassen. Als sie am U-Bahnsteig von einem gleichaltrigen betrunkenem Jungen angemacht werden, reagieren sie mit Gewalt. Am Ende ist er tot. Sie verlassen den Tatort.

Hazal flüchtet nach Istanbul und schlüpft bei ihrer ungefähr gleichaltrigen Internetbekanntschaft unter. Mehmet arbeitet in einem Callcenter und konsumiert eifrig Drogen.

Ellbogen“ ist das auf Fatma Aydemirs Roman basierende Spielfilmdebüt von Asli Özarslan. Die Stärken des Films liegen in der Protagonistin und der Inszenierung, die immer nah an Hazal bleibt und die ihr Verhalten weder entschuldigt noch verurteilt. Das überlässt er dem Publikum.

Hazal, glaubwürdig gespielt von Melia Kara in ihrem Filmdebüt, ist eine im Wedding lebende Deutschtürkin. Sie ist vergnügungssüchtig, ichbezogen und faul. Sie möchte gerne erfolgreich sein, scheut aber die dafür notwendige Arbeit. Sie denkt, dass nicht sie, sondern die anderen Menschen und die Gesellschaft für ihre Situation verantwortlich sind. Und sie will keine Verantwortung für ihre Taten übernehmen. Stattdessen flüchtet sie.

Die Schwächen liegen im Aufbau der Geschichte und der ausschließlichen Konzentration auf Hazal. Das macht den Film zu einer Ich-Erzählung. Mit dem Abspann dauert „Ellbogen“ neunzig Minuten. Über dreißig Minuten vergehen, bis Hazal und ihre beiden Freundinnen den jungen Mann zusammenschlagen, treten und töten. In dem Moment beginnt die eigentliche Geschichte. Bis dahin geschieht eher wenig. Wir beobachten eine junge Frau zusammen mit ihrer Familie, ihren Freundinnen und, ein wenig, auf der Suche nach Arbeit. Das, was Özarslan in dieser halben Stunde erzählt, hätte ein anderer Regisseur in zwanzig oder sogar nur zehn Minuten erzählt.

Auch später, in Istanbul, geschieht eher wenig. Die Tat wird, bis auf einen Seitenaufruf im Internet, nicht weiter thematisiert. Hazal könnte, bis auf die letzten paar Minuten, genausogut einfach von zu Hause ausgerissen sein oder einen Urlaub bei ihrem Freund verbringen. Salopp sehen wir sie in der ersten halben Stunde in Berlin abhängen und danach in Istanbul abhängen. Die Tat scheint sie nur insofern zu berühren, dass sie nicht bestraft werden möchte.

Ein weiteres, damit zusammen hängendes Problem ist, dass wir wenig über ihre Gefühle und Motive erfahren. Es gibt kein Voice-Over und auch niemand, mit dem sie sich über ihre Tat und die Folgen für sie und ihr Umfeld unterhält. Sie ist eine von allen anderen isolierte Person, die stumm in die Landschaft blickt. Was sie denkt und fühlt, können wir erahnen, aber wir wissen es nicht.

Ellbogen (Deutschland/Frankreich/Türkei 2024)

Regie: Aslı Özarslan

Drehbuch: Claudia Schaefer, Aslı Özarslan (Co-Autorin)

LV: Fatma Aydemir: Ellbogen, 2017

mit Melia Kara, Jamilah Bagdach, Asya Utku, Nurgül Ayduran, Doğa Gürer, Mina Özlem Sağdıç, Jale Arikan, Ali-Emre Şahin

Länge: 90 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Ellbogen“

Moviepilot über „Ellbogen“

Rotten Tomatoes über „Ellbogen“

Wikipedia über „Ellbogen“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Ellbogen“


Neu im Kino/Filmkritik: „Rheingold“, der Mythos, der Gangster, der Rapper – eine deutsche Geschichte

Oktober 31, 2022

Provinziell klingt so provinziell. Trotzdem beschreibt das die Gangster-Karriere des Rappers Xatar ziemlich gut. Mit einer ordentlichen Portion Trotteligkeit, die auch gut in einen Heinz-Rühmann-Film gepasst hätte. Mit der Toughness, die US-Rapper mit tonnenschweren Goldketten, vulgär präsentierten Pistolen und dick aufgetragener authentischer Ghetto-Legitimität fotogen vor sich her tragen, hat das nichts zu tun. Das liegt nicht, wie Fatih Akin in seinem Xatar-Biopic „Rheingold“ zeigt, am mangelndem Wollen, sondern an der Welt, in der Xatar lebt. Waffen, das organisierte Verbrechen und Rassismus haben in Deutschland eine andere Rolle, ein anderes Gewicht und eine andere Bedeutung als in den USA. Das führt dazu, dass aus den USA ein stetiger Strom Gangsterfilme kommt, in denen Mafiosi sich blutig bekämpfen. In Deutschland wird im Zweifelsfall einfach geleugnet, dass es hier die Mafia und das Organisierte Verbrechen gibt, Ausnahmen, wie Dominik Grafs TV-Miniserie „Im Angesicht des Verbrechens“, bestätigen die Regel.

Fatih Akin erzählt in „Rheingold“ flott das Leben von Giwar ‚Xatar‘ Hajabi als knallige Coming-of-Age-Geschichte und humoristische Räuberpistole nach. Sein Film beginnt schon vor Giwars Geburt. Im Iran ist Giwars Vater Eghbal Hajabi Musikprofessor und Komponist. Seine aus einer angesehenen Familie stammende Frau Rasal ist ebenfalls Musikerin. Nachdem Mullahs in Teheran eines seiner Konzerte stürmen, flüchten sie in den Norden des Landes und schließen sich kurdischen Freiheitskämpfern an. Während des Iran-Irak-Krieges wird Rasal zur Kriegsheldin.

Giwar kommt am 24. (!) Dezember 1981, in einer Höhle zur Welt. Mit Hilfe des Roten Kreuzes kommen die Hajabis nach Paris und später nach Bonn. Dort hört Giwar, zusammen mit seinem Vater, im Opernhaus Richard Wagners „Rheingold“. Eghbal arbeitet wieder als Musiker, verliebt sich in eine andere Frau und verlässt seine Familie. Rasal muss als Putzfrau arbeiten. Giwar geht auf das Gymnasium, erhält Klavierunterricht (dafür ist immer Geld da) und versucht als Flüchtlingskind seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Er wird von Gleichaltrigen herumgestoßen. In einem Boxstudio trainiert er mit dem Ziel, seine Peiniger zu verprügeln. Er probiert alles aus, um Geld, viel Geld zu verdienen. Gesetze sind ihm egal. Skrupel hat er keine. Er verkauft illegal kopierte Sexvideos (wir reden von den Neunzigern) und Drogen. Seine Ambitionen sind größer als sein Können. Entsprechend dilletantisch ist der von ihm 2009 durchgeführte Goldraub, der ihm eine mehrjährige Haftstrafe verschafft.

Im Gefängnis beginnt er ernsthaft seine Karriere als Rapper.

Das ist ein Leben, das genug Stoff für einen Film hergibt und in dem viel über die deutsche Gesellschaft erzählt werden kann.

Fatih Akin, der sich schon in seinem Spielilmdebüt „Kurz und schmerzlos“ (1998) mit dem Leben von migrantischstämmigen Kleinkriminellen in Hamburg-Altona beschäftigte, erzählt hier wieder aus dem Leben von Migranten in Deutschland. Locker, flockig, pointiert, nie besonders kritisch gegenüber dem Porträtierten erzählt er das Leben von Giwar Hajabi und seinen Eltern. Weil die Geschichte nicht in einer im Verbrechen versinkenden US-Großstadt mit maroden Sozialbauten, schlechten Schulen und zu vielen Schusswaffen, sondern im beschaulichen Bonn am Rhein spielt, wirkt Giwars Geschichte immer wie eine schnurriger Räuberpistole mit etwas Gangster-Ghetto-Feeling und hochkultureller deutscher Adelung.

Das Ergebnis kann auch gut als Image-Film für den Musiker dienen. Er wird als wahrer Hansdampf in allen Gassen gezeigt. Er ist der nette, sympathische Junge, der Geld verdienen will. Dabei war Giwar kein Unschuldslamm. Es waren seine Entscheidungen, die ihn zum Verbrecher werden ließen und für die er zu einer achtjährigen Haftstrafe verurteilt wurde.

Rheingold (Deutschland 2022)

Regie: Fatih Akin

Drehbuch: Fatih Akin

LV: Xatar: Alles oder Nix, 2015

mit Emilio Sakraya, Mona Pirzad, Kardo Razzazi, Ilyes Raoul, Ugur Yücel, Denis Moschitto, Sogol Faghani, Arman Kashani, Julia Goldberg, Majid Bakhtiari, Karim Düzgün Günes, Doğa Gürer

Länge: 138 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Filmportal über „Rheingold“

Moviepilot über „Rheingold“

Rotten Tomatoes über „Rheingold“

Wikipedia über „Rheingold“

Meine Besprechung von Fatih Akins „Müll im Garten Eden“ (Deutschland 2012)

Meine Besprechung von Fatih Akins „The Cut“ (Deutschland/Frankreich 2014)

Meine Besprechung von Fatih Akins „Tschick“ (Deutschland 2016)

Meine Besprechung von Fatih Akins „Aus dem Nichts“ (Deutschland 2017)