Edward Hopper war in seinen Gemälden vom Film inspiriert und er inspirierte etliche Filmemacher, aber auf die verwegene Idee, Bilder von Hopper im Film möglichst originalgetreu nachzustellen kam vor Gustav Deutsch noch niemand. Er nahm dreizehn Gemälde und die Filmbilder unterscheiden sich nur in Details von den Originalen. Es sind, in der Reihenfolge der filmischen Präsentation:
Sitzabteil (Chair Car, 1965)
Hotelzimmer (Hotel Room, 1931)
Zimmer in New York (Room in New York, 1940)
Kino in New York (New York Movie, 1939)
Nachts im Büro (Office at Night, 1940)
Hotelhalle (Hotel Lobby, 1943)
Morgensonne (Morning Sun, 1952)
Sonnenlicht auf braunem Sandstein (Sunlight on Brownstone, 1956)
Motel im Westen (Western Motel, 1957)
Exkursion in die Philosophie (Excursion into Philosophy, 1959)
Eine Frau in der Sonne (A Woman in the Sun, 1961)
Pause (Intermission, 1963)
Sonne in einem leeren Raum (Sun in an Empty Room, 1963)
Zu diesen Bildern erzählt Gustav Deutsch, der früher experimentelle Filmanalysen machte, die Geschichte der Schauspielerin Shirley (Stephanie Cumming), die sich zwischen den Dreißigern und den Sechzigern, zwischen Depression, Zweitem Weltkrieg, McCarthy-Ära und Bürgerrechtsbewegung, abspielt. Dabei ist die Historie und Shirleys Geschichte nur die akustische Klammer für die Bildbetrachtungen. Denn während die Kamera sich minimal in und aus den nachgestellten Bildern bewegt, die Schauspieler sich ebenfalls kaum bewegen, hören wir ihre Gedanken. Manchmal auch Gespräche oder Gedanken von anderen Menschen.
Das ist am Anfang ein faszinierendes Spiel mit dem Werk von Hopper, das Gustav Deutsch auf der visuellen Ebene unverändert übernimmt, während die Texte sich, ohne es direkt zu sagen, mit Hoppers Ansichten auseinandersetzen. Denn Hopper war ein Ultra-Konservativer, für den es selbstverständlich war, dass seine Frau ihre Karriere aufgab. Shirley dagegen ist eine Schauspielerin, die Mitglied des Group Theatres und des Living Theatres ist, auch andere Jobs annimmt (als Kartenabreißerin im Kino oder als Bürohilfe), linke Ansichten hat und im Hintergrund, aus dem Radio, wichtge historische Ereignisse angesprochen werden. Außerdem spielen die Segmente immer am 28. oder 29. August, weil am 28. August 1963 der erste große Marsch der Bürgerrechtsbewegung auf Washington war. Martin Luther King hielt dort seine legendäre „I have a Dream“-Rede.
Mit zunehmender Filmzeit wird allerdings auch deutlich, wie monothematisch Hoppers Bilder sind und wie sehr er seinem Stil treu blieb. So ordnete Deutsch die Bilder letztendlich chronologisch. Aber auch bei einer anderen Anordnung wäre nicht aufgefallen, dass die Bilder aus vier Jahrzehnten stammen, in denen große politische, soziale und ökonomische Veränderungen in den USA und der Welt stattfanden. In den Gemälden finden sie keinen Niederschlag.
Es geht in den dreizehn Gemälden immer um Einsamkeit. Fast immer ist Shirley allein oder isoliert von den anderen Charakteren, die ebenso isoliert in den anonymen Räumen sitzen. Es sind Büros, Hotellobbys, Hotelzimmer, Kinosäle und leere Wohnungen, die nichts über ihre Bewohner verraten. Transiträume.
Diese thematische und visuelle Begrenzung des Films zeigt dann auch die Grenzen in Edward Hoppers Werk. Denn letztendlich bewegt sich in ihnen nichts. Es herrscht Stillstand, verbunden mit einer Tendenz zur schön anzusehenden Leere.
Der überraschend zugängliche Experimentalfilm „Shirley – Visionen der Realität“ funktioniert vor allem als Meditation über die Gemälde und als fiktionale Auseinandersetzung mit dem Werk eines Künstlers.
Wobei man auch einfach in aller Ruhe die nachgestellten Bilder bewundern kann.
Shirley – Visionen der Realität (Österreich 2013)
Regie: Gustav Deutsch
Drehbuch: Gustav Deutsch
mit Stephanie Cumming, Christoph Bach, Florentin Groll, Elfriede Irrall, Tom Hanslmaier
Länge: 93 Minuten
FSK: ab 0 Jahre
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Hinweise
Homepage zum Film
Film-Zeit über „Shirley – Visionen der Realität“
Moviepilot über „Shirley – Visionen der Realität“
Wikipedia über Edward Hopper

Veröffentlicht von AxelB