Neu im Kino/Filmkritik: Das „Alphabet“, intellektuell unbefriedigend buchstabiert

Oktober 31, 2013

 

98 Prozent aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch zwei Prozent“, sagt Erwin Wagenhofer in seinem neuesten Dokumentarfilm „Alphabet“ und in knapp zwei Stunden versucht er zu erklären, warum die Schule uns und unsere Kinder konsequent verblödet.

Seine Reise beginnt in China. Die dortigen Schüler sind, nach den PISA-Studien, exzellent. Gleichzeitig begehen dort die meisten jungen Menschen Suizid. Und der PISA-Koordinator Andreas Schleicher erzählt voller Bewunderung von den großartigen Leistungen der chinesischen Schüler, denen das Wissen förmlich eingebläut wird, und sagt, dass er seine Kinder nicht in ein solches Leistungssystem stecken würde. Solche erhellenden Momente sind allerdings rar gesät in „Alphabet“.

Nach China besucht Wagenhofer mehrere Länder und verschiedene Bildungssysteme, die alle auf dem westlichen Bildungssystem basieren, und, weil es ihm um eine Metaposition geht, betrachtet er die verschiedenen Schulen auch nicht differenzierter. Bei ihm sind die Unterschiede zwischen China, Deutschland, England, Frankreich und Spanien vernachlässigbar. Das immer als vorbildlich gelobte skandinavische System wird komplett ignoriert. Schule ist Schule und sie sind alle gleichermaßen erfolgreich im Zerstören der kreativen Fähigkeiten unserer Kinder.

Denn Erwin Wagenhofer, der vorher die hochgelobten Dokumentarfilme „We feed the World“ und „Let’s make Money“ drehte, beschränkt sich in seinem neuesten Film auf das Predigen. Danach ist das derzeitige Bildungssystem nur geeignet, um Kinder zu verblöden und es muss durch ein freies Bildungssystem, in dem Kinder tun und lassen können, was sie wollen, ersetzt werden. Zum Beispiel in dem „Malort“ von Arno Stern, Oder indem sie lernen, was ihnen gefällt. Wie Arno Stern Sohn André Stern, der nie eine Schule besuchte und sich das Wissen aneignete, das ihn interessierte. Diese Position, die das freie Lernen vergöttert, wird einem ungefähr zwei Stunden monothematisch um die Ohren gehauen. Argumente für die frohe Botschaft werden nicht geliefert. Gegenpositionen werden ignoriert. Ebenso die offensichtliche Frage, warum denn niemand sich erfolgreich für das im Film als absolut überlegen präsentierte alternative Bildungsmodell einsetzt, das die Kreativität und freie Entfaltung unserer Kinder fördert und zur vollkommenen Entfaltung bringt. Denn eigentlich müsste die Gesellschaft sich doch solche Menschen wünschen.

Und er sagt auch nichts dazu, wie Kinder, die nicht an normalen Schulen einen Abschluss machen, später einen Beruf ergreifen können. Stattdessen gibt es ausgewählte Beispiele, die einfach nur Wagenhofers These bestätigen. Der Sohn ohne Schulbesuch und damit ohne formalen Abschluss, der Gitarrenbauer wurde. Der Junge mit dem Down-Syndrom, der einen Hochschulabschluss machen konnte,

Alle Fragen, die sich aus seiner These ergeben, lässt er links liegen. Stattdessen präsentiert er sich als intellektuelle Ausgabe von Michael Moore. Und genau wie die Michael-Moore-Filme sich primär an ein bereits von der Botschaft überzeugtes Publikum richten, spricht „Alphabet“ auch nur ein bereits überzeugtes Publikum an, das sich, wie in einem Gottesdienst, selbst bestätigt. Die anderen werden sich – bei aller durchaus vorhandenen Sympathie – intellektuell unterfordert und schamlos manipuliert fühlen.

P. S.: Das schön gestaltete Presseheft ist dagegen sehr informativ und bietet das, was der Film hätte bieten müssen.

Teile des Presseheftes sind auch im Schulmaterial, das es auf der Film-Homepage gibt, enthalten.

Alphabet - Plakat

Alphabet (Österreich/Deutschland 2013)

Regie: Erwin Wagenhofer

Drehbuch: Erwin Wagenhofer

mit Sir Ken Robinson, Yang Dongping, Andreas Schleicher, Gerald Hüther, Arno Stern, Yakamoz Karakurt, Thomas Sattelberger, André Stern, Pablo Pineda Ferrer

Länge: 113 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Film-Zeit über „Alphabet“

Moviepilot über „Alphabet“

Wikipedia über Erwin Wagenhofer