Neu im Kino/Filmkritik: Über Marco Bellocchios „Die Bologna-Entführung – Geraubt im Namen des Papstes“

November 20, 2023

1858 nehmen Soldaten in Bologna den siebenjährigen Edgardo Mortara in ihre Obhut. Sie handeln im Auftrag von Papst Pius IX. Damals war Bologna ein Kirchenstaat. Es galten die Regeln der Römischen Inquisition. Deshalb konnte der Papst ihnen befehlen, den Jungen aus seiner jüdischen Familie zu nehmen. Edgardo wurde nämlich, wie seine Eltern später erfahren, als Säugling von seiner Amme heimlich getauft. Nach dem damals in Bologna gültigem Gesetz, hatte die katholische Kirche das Recht (und die Pflicht) getaufte Kinder katholisch zu erziehen.

Denn: ein Katholik ist ein Katholik. Von der Taufe bis zu seinem Tod. Und ein Katholik darf unter keinen Umständen von Mitglieder einer anderen Glaubensgemeinschaft, in diesem Fall Juden. erzogen werden.

Marco Bellocchios neuer Film „Die Bologna-Entführung – Geraubt im Namen des Papstes“ erzählt eine wahre Geschichte. Nach seinem grandiosen Drama „Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Mafia“ ist sein neuester Spielfilm ein höchstens zu zwei Dritteln gelungener Film. Bellocchio zeichnet zunächst ein überzeugendes Bild der jüdischen Gemeinschaft von Bologna. Packend zeigt er, wie die Mortaras um ihr von der Kirche geraubtes Kind kämpfen. Zur gleichen Zeit erhält Edgardo, ohne dass seine Eltern davon wissen, in Rom in einem Katechumenenhaus eine streng katholische Erziehung. Es ist eine Indoktrination.

Schnell bewegt der Fall eine weltweite Öffentlichkeit. In Italien läuft, weil die Kirche sich weigert, Edgardo zurückzugeben, alles auf ein Gerichtsverfahren hinaus. Ein Richter muss entscheiden, ob es rechtens ist, wenn ein Kind aufgrund einer bestenfalls zweifelhaften Behauptung einer Amme von seinen Eltern getrennt wird. In diesen Momenten geht es auch um die Macht der katholischen Kirche, das Judentum, den Umgang von Glaubensgemeinschaften miteinander, die Pflichten und Rechte von Eltern und selbstverständlich um Politik.

Aber Bellocchio beendet seinen Film nicht mit dem Urteilsspruch. Sondern er erzählt die Geschichte von Edgardo weiter, Allerdings ohne zu wissen, was er ab diesem Moment erzählen will. Kryptisch wird auf politische Kämpfe und die Nachwirkungen des Urteils eingegangen und es gibt seltsame Begegnungen von Edgardo mit seiner Familie. So will er seine im Totenbett liegende Mutter noch schnell taufen.

Das I-Tüpfelchen dieser Orientierungslosigkeit steht im Abspann. In ihm wird auf Edgardos weiteres Leben eingegangen. Edgardo wude 1873 mit einer Dispens des Papstes zum Priester geweiht und war danach in Europa und Amerika in der Judenmission tätig. Er starb 1940 in Lüttich in einem Kloster. In dem Moment scheint Bellocchio uns sagen zu wollen, dass Edgardo Mortara zwar aus seiner ihn liebenden, gut erziehenden und finanziell auskömmlich gestellten Familien (also sozusagen der beste aller Familien) geraubt wurde, aber er dank seiner darauf folgenden katholischen Erziehung zu einem überzeugten Katholiken wurde, der sein Leben in den Dienst des Glaubens stellte. Was hätte der Kirche besseres passieren können? Und in welcher anderen Welt hätte Edgardo ein besseres Leben haben können?

Wer also, wieder einmal (wie beispielsweise bei „Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds & Snakes“ oder „Elvis“), das Kino mitten im Film verlässt, kann einen sehenswerten Film sehen. Wer bis zum Ende bleibt, sieht einen schlechten Film. In diesem Fall sieht er auch einen Film, der mit zunehmender Laufzeit das vorher gezeigte negiert, ohne dass eine überzeugende andere Erzählung entsteht.

Die Bologna-Entführung – Geraubt im Namen des Papstes (Rapito, Italien/Frankreich/Deutschland 2023)

Regie: Marco Bellocchio

Drehbuch: Marco Bellocchio, Susanna Nicciarelli, Daniela Ceselli

mit Paolo Pierobon, Fausto Russo Alesi, Barbara Ronchi, Enea Sala, Leonardo Maltese, Filippo Timi, Francesco Giufuni

Länge: 134 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Die Bologna-Entführung“

Moviepilot über „Die Bologna-Entführung“

Metacritic über „Die Bologna-Entführung“

Rotten Tomatoes über „Die Bologna-Entführung“

Wikipedia über „Die Bologna-Entführung“ (deutsch, englisch, italienisch)

Meine Besprechung von Marco Bellocchios „Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“ (Il Traditore, Italien/Deutschland/Frankreich/Brasilien 2019)


Neu im Kino/Filmkritik: „Acht Berge“ und die Freundschaft zwischen einem Stadt- und einem Landjungen

Januar 15, 2023

Pietro und Bruno lernen sich 1984 kennen. Damals war Pietro ein elfjähriger Stadtjunge, der mit seinen Eltern den Sommer in den italienischen Alpen im Aostatal in einem kleinen Dorf verbrachte. Das war damals eine von der Welt vergessenene Gegend, in der noch weitgehend wie vor Jahrhunderten gelebt und gearbeitet wurde. In den vergangenen Jahren verließen die meisten Dorfbewohner das Dorf. Bruno ist ein wenige Monate älterer einheimischer Junge, der sich über den neuen Spielkameraden freut. Denn sie sind in der Gegend die beiden einzigen Kinder.

The Broken Circle“-Regisseur Felix van Groeningen und seine Lebensgefährtin Charlotte Vandermeersch, die mit ihm das Drehbuch schrieb und erstmals Regie führte, inszenierten ihr im unüblichen 4:3-Format gedrehtes Alpendrama „Acht Berge“ nach dem Roman von Paolo Cognetti. Van Groeningen und Vandermeersch veränderten die Struktur des Romans – Cognetti springt zwischen den Zeiten, van Groeningen und Vandermeersch erzählen chronologisch – und schildern die sich über Jahrzehnte bis fast in die Gegenwart erstreckende Freundschaft zwischen Pietro und Bruno. Aus Kindern werden junge Männer und dann Erwachsene. Sie treffen sich immer wieder und sehen sich auch immer wieder über mehrere Jahre nicht. Bruno bleibt in den Bergen. Pietro erkundet die Welt und arbeitet auch im Himalaya.

Das folgt keiner klassischen Drehbuchdramaturgie, sondern dem langen, ruhigen Fluss des Lebens. Van Groeningen und Vandermeersch erzählen die Geschichte der Freundschaft zwischen den beiden Jungs strikt chronologisch. Sie erzählen episodisch und elliptisch. Auf Erklärungen und dramatische Zuspitzungen verzichten sie. Daher wird der immerhin gut zweieinhalbstündige Film mit zunehmender Laufzeit auch etwas länglich. Das Ende düfte, angesichts von Felix van Groeningens bisherigem Werk niemand überraschen.

So ist „Acht Berge“ durchaus gelungen in der Zeichnung seiner Figuren, der Schilderung verschiedener Lebensentwürfe und einer Freundschaft, die anscheinend durch nichts, jedenfalls nichts profan-weltliches, zerstört werden kann. Aber, wie viele andere aktuelle Filme, die einfach nur chronologisch und mit Zeitsprüngen ihre Geschichte erzählen, will sich letztendlich keine überbordende Beigesterung einstellen. Die Zutaten sind vorhanden, aber die Anordnung ist zu beliebig.

Acht Berge (Le otto montagne, Italien/Belgien/Frankreich 2022)

Regie: Felix van Groeningen, Charlotte Vandermeersch

Drehbuch: Felix van Groeningen, Charlotte Vandermeersch

LV: Paolo Cognetti: Le otto montagne, 2016 (Acht Berge)

mit Luca Marinelli, Alessandro Borghi, Filippo Timi, Elena Lietti, Cristiano Sassella, Lupo Barbiero, Andrea Palma, Francesco Palombelli, Elisabetta Mazzullo

Länge: 148 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Acht Berge“

Metacritic über „Acht Berge“

Rotten Tomatoes über „Acht Berge“

Wikipedia über „Acht Berge“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Felix van Groeningens „The Broken Circle“ (The Broken Circle Breakdown, Belgien/Niederlande 2012)

Meine Besprechung von Felix van Groeningens „Café Belgica (Belgica, Belgien/Frankreich/Niederlande 2016)

Meine Besprechung von Felix van Groeningens „Beautiful Boy“ (Beautiful Boy, USA 2018)