Neu im Kino/Filmkritik: Über Radu Judes iPhone-Film „Kontinental ’25“

Oktober 9, 2025

Ein Film – – – muss nicht teuer sein, um gut zu sein. Der Regisseur muss nur eine Idee, ein daraus entstandenes Drehbuch, einige Schauspieler, einige Tage Zeit und ein iPhone haben. Drehgenehmigungen hatte er, jedenfalls sehen die Außenaufnahmen so aus, nicht. Falls doch, wurde nichts abgesperrt. Warum auch? Schließlich sind heute in Städten Smartphones so allgegenwärtig, dass sich niemand mehr nach einem Menschen umdreht, der etwas aufnimmt.

So drehte Radu Jude, direkt im Anschluss an seine dreistündige sehr freie „Dracula“-Adaption (deutscher Starttermin: unklar), innerhalb von knapp elf Tagen, ohne zusätzliche Beleuchtung oder Grip-Ausstattung „Kontinental ’25“.

In Cluj, der Hauptstadt Transsylvaniens, bringt sich ein Obdachloser um in seinem sparsam eingerichteten Unterschlupf im Keller eines Hauses, das einem Luxushotel weichen soll. Er stranguliert sich an der Heizung, während die Gerichtsvollzieherin Orsolya (Eszter Tompa) bei ihm eine Zwangsräumung vollstrecken will.

Danach fühlt Orsolya sich schuldig und spricht mit verschiedenen Menschen, die ihr mehr oder weniger nahe stehen, darüber.

Inszeniert hat Jude seinen neuen Film in langen, etwas ziellosen Szenen. Anstatt eine voranschreitende Geschichte zu erzählen, erzählt Orsolya immer wieder, fast wortgleich die Geschichte von dem Suizid des Obdachlosen und ihren Schuldgefühlen. Das langweilt schnell. Es fehlen auch die ätzenden satirischen Zuspitzungen seiner vorherigen Filme. In „Kontinental ’25“ entwickelt sich alles deutlich bedächtiger, ernster und humorfreier.

Auffallend ist, nachdem er früher immer einen offensiv ausgelebten Kult des Dilletantismus, der fröhlichen Improvisation und der Vielfalt der verwendeten Mittel predigte, wie formal geschlossen, überlegt in seiner Struktur und sich, auf verschiedenen Ebenen, offen auf andere Filme beziehend „Kontinental ’25“ ist. Die Struktur hat er von Alfred Hitchcocks „Psycho“ übernommen. In „Psycho“ beginnt Hitchcock mit der Geschichte des zukünftigen Opfers Marion Crane. Nach einem Drittel des Films wird sie von Norman Bates in einer Dusche ermordet. Anschließend steht Bates im Zentrum des Films. Weil auch er ein Opfer ist, kann man als Zuschauer seine Sympathie von Crane auf Bates übertragen. Gleiches gilt für „Kontinental ’25“. Der Obdachlose, der am Filmanfang im Mittelpunkt des Films steht, ist ein Opfer der Gesellschaft. Orsolya ebenso. Und wie Norman Bates muss sie mit ihren Schuldgefühlen umgehen.

Gleichzeitig ist Judes Film eine Hommage an und Karikatur von Roberto Rossellinis Drama „Europa 51“. Rossellini erzählt eine größtenteils andere Geschichte. Bei Rossellini beginnt die vermögende Irene Gerard (Ingrid Bergmann) nach dem Suizid ihres Sohnes, von Schuldgefühlen geplagt und nach Erlösung suchend, eine Reise durch die Arbeiterklasse von Rom. Irene lernt die Welt kennen, in der Orsolya lebt.

Auf der Berlinale erhielt „Kontinental ’25“ den Silbernen Bären für das beste Drehbuch.

Kontinental ’25 (Kontinental ’25, Rumänien 2025)

Regie: Radu Jude

Drehbuch: Radu Jude

mit Eszter Tompa, Gabriel Spahiu, Adonis Tanța, Oana Mardare, Șerban Pavlu

Länge: 109 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Kontinental ’25“

Metacritic über „Kontinental ’25“

Rotten Tomatoes über „Kontinental ’25“

Wikipedia über „Kontinental ’25“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Kontinental ’25“

Meine Besprechung von Radu Judes „Bad Luck Banging or Loony Porn“ (Babardeala cu bucluc sau porno balamuc, Rumänien/Luxemburg/Tschechische Republik/Kroatien 2021)

Meine Besprechung von Radu Judes „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ (Nu astepta prea mult de la sfârsitul lumii, Rumänien/Luxemburg/Frankreich/Kroatien 2023)


DVD-Kritik: Der Berlinale-Gewinner „Bad Luck Banging or Loony Porn“

Januar 5, 2022

Der Anfang des letzten Berlinale-Gewinners „Bad Luck Banging or Loony Porn“ sorgte für Diskussionen und erwartbare Probleme beim Verkauf des Films in bestimmte Länder. So darf der Film in Russland wegen der „Verbreitung von Pornographie“ nicht aufgeführt werden. In den USA verlangte die MPAA für eine NC-17-Freigabe Schnitte. Wahrscheinlich wollten sie vor allem, dass die ersten Minuten entfernt werden. Diese Minuten dürften auch in anderen Ländern auf den nachvollziehbaren Widerstand die Sittenwächter gestoßen sein.

Über mehrere Minuten sehen wir ein explizites Amateurvideo, in dem ein Mann und eine Frau hemmungslosen Sex miteinander haben und das so auf irgendeiner dieser beliebten Pornowebseiten stehen könnte (die natürlich nie jemand anklickt, wie auch vor fünfzig Jahren sich niemand diese „Schulmädchenreport“-Filme im Kino ansah). Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände wurde das Video, das die Lehrerin Emilia ‚Emi‘ Colibiu und ihren Mann, der auch die Kamera bediente, auf einer Porno-Homepage veröffentlicht. Als Emi davon erfuhr, veranlasste sie die Löschung. Aber es ist schon zu spät. Das Video wurde weiter verbreitet und auch ihre Schülerinnen und deren Eltern erfuhren davon.

In einigen Stunden muss Emi, Lehrerin an einer renommierten Schule, sich bei einem Elternabend vor den aufgebrachten Eltern rechtfertigen. Einige Eltern wollen, dass sie wegen des unsittlichen Videos entlassen wird.

Radu Jude unterteilt den Film, den er bescheiden „Skizze für einen populären Film“ und „Skizze für einen Heimatfilm“ nennt, in drei Kapitel. Schon damit betont er die Offenheit seines Films. Es ist eine Skizze und kein in sich geschlossenes Werk. Es gibt lose Enden, Gedanken und, am Ende, mehrere mögliche Enden. Und „populär“ ist der Film, weil er ein Thema behandelt, über das viele Menschen, auch er und seine Freunde, immer wieder stritten.

Im ersten Teil geht Emi mit energischen Schritten durch Bukarest. Sie erledigt einige Dinge. Trifft einige Menschen. Aber meistens geht sie schnell, fast schon rennend, durch die Stadt. Dabei fallen immer wieder die auf der Straße sichtbare Werbung und bei Emis alltäglichen Begegnungen die oft sehr deutlichen und eindeutigen pornographischen Anspielungen auf. Dieser von einem ständigem sexuellem Hintergrundrauschen begleitete Marsch wurde im Sommer 2020 im Stil des Cinéma vérité gedreht. Oft sehen die Bilder so aus, als habe niemand die Kamera bemerkt oder als habe die Kamera Emi nur zufällig aufgenommen.

Den zweiten Teil überschreibt Jude mit „Ein kompaktes Lexikon mit Anekdoten, Zeichen und Wundern“ und er ist genau das. Es handelt sich um eine 25-minütige Abfolge kurzer Filme unterschiedlicher Herkunft mit mehr oder weniger erkenntnisreichen Erklärungen und Pointen.

Im dritten Teil muss Emi sich dann vor den aufgebrachten Eltern rechtfertigen. Aufgrund der Corona-Pandemie findet das Treffen im griechisch-römisch wirkendem Innenhof der Schule statt. Ursprünglich, so Radu Jude im Bonusmaterial, wollt er diese Szene in einem Schulraum drehen. Aber die Pandemie zwang ihn dazu, die Konfrontation nach draußen zu verlegen und die Schauspieler mussten Masken tragen. Beide, durch die äußeren Umstände erzwungenen Veränderungen, verbessern die Szene. Sie wird vielschichtiger und der Innenhof sieht eindeutig besser als ein anonymes Klassenzimmer aus.

In diesem Teil treffen die unterschiedlichen Meinungen satirisch überspitzt aufeinander. Schnell wird aus der geplanten Abrechnung etlicher Eltern mit der Lehrerin eine fulminante Abrechnung mit einer bigotten Moral, die es für unerträglich hält, wenn eine Lehrerin nackt zu sehen ist. Dass es sich herbei um Bilder handelt, die niemals für irgendeine Öffentlichkeit bestimmt waren und die nicht von ihr oder ihrem Mann veröffentlicht wurden, ist egal. Sie muss dafür entlassen werden. Gleichzeitig sehen sie sich das Video aufmerksam an.

Diess Filmkapitel erinnert an satirische Gesellschaftskritiken aus den Siebzigern, die die bürgerliche Gesellschaft und ihre Doppelmoral kritisierten.

Das Bonusmaterial besteht aus einem 19-minütigem Interview mit Radu Jude, der sehr ausführlich, informativ und auch selbstironisch über sich und seinen Film spricht.

Bad Luck Banging or Loony Porn (Babardeala cu bucluc sau porno balamuc, Rumänien/Luxemburg/Tschechische Republik/Kroatien 2021)

Regie: Radu Jude

Drehbuch: Radu Jude

mit Katia Pascariu, Claudia Ieremia, Olimpia Malai, Nicodim Ungureanu, Alexandru Potocean, Andi Vasluianu, Oana Maria Zaharia, Gabriel Spahiu, Florin Petrescu, Stefan Steel

DVD

good!movies/Neue Visionen

Bild: 2,35:1 in 16:9

Ton: Deutsch, Rumänisch (Dolby Digital 5.1)

Untertitel: Deutsch

Bonusmaterial: Interview mit Radu Jude, Trailer

Länge: 102 Minuten

FSK: ab 18 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Moviepilot über „Bad Luck Banging or Loony Porn“

Metacritic über „Bad Luck Banging or Loony Porn“

Rotten Tomatoes über „Bad Luck Banging or Loony Porn“

Wikipedia über „Bad Luck Banging or Loony Porn“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Bad Luck Banging or Loony Porn“