Neu im Kino/Filmkritik: „The Mastermind“ – ein Retro-Heistthriller von Kelly Reichardt

Oktober 16, 2025

James Blaine ‚J. B.‘ Mooney (Josh O’Connor) ist keiner dieser Filmdiebe, der beim Einbruch in einen hoch gesicherten Safe eine komplizierte Alarmanlage ausschaltet und mit einer Millionenbeute verschwindet. Er ist auch keiner dieser Diebe, der mit großem Auftritt und breitem Lachen die Schönen und Reichen bestiehlt. Er ist auch kein Profi wie Richard Starks Parker, der eiskalt seine Raubzüge plant und durchführt. Mooney ist ein kleiner Fisch im Verbrecher-Haifischbecken. Er ist ein arbeitsloser, verheirateter Tischler und Vater, der sich regelmäßig mit seinen gutbürgerlichen Eltern trifft. „Er ist klug genug, um sich in Schwierigkeiten zu bringen, aber nicht klug genug, um aus den Schwierigkeiten wieder herauszukommen“ (Presseheft). Während er als unauffälliger Kunstliebhaber durch ein geöffnetes Museum streift, klaut er kleine Figuren aus der Ausstellung. Er passt auf, dass seine Diebstähle nicht bemerkt werden. Er arbeitet allein.

Beides soll sich jetzt ändern. Er will aus dem kleinen örtlichen Kunstmuseum „Framingham Museum of Art“ mehrere abstrakte Gemälde des von ihm bewunderten Künstlers Arthur Dove stehlen. Dafür ist er auf Helfer angewiesen.

Kelly Reichardt schildert in ihrem neuen, 1970 in Framingham, Massachusetts, einer ruhigen Gemeinde zwischen Worcester und Boston, spielendem Film „The Mastermind“ akribisch Mooneys familiäres Umfeld, seine präzisen Planungen, ihre gemeinsame Vorbereitung des großen Coups und den sich anders als geplant entwickelnden Diebstahl. In diesen Momenten knüpft Reichardt gelungen an das New-Hollywood-Kino und damalige Gangsterfilme an.

Auch die Zeit nach dem erfolgreichen Diebstahl, wenn die Amateurverbrecher mit der Beute entkommen wollen, ist spannend. Aber wie in „Night Moves“, ihrem Thriller über eine Gruppe Öko-Terroristen, die sich nach der Sprengung eines Staudamms trennen und an verschiedenen Orten untertauchen, schlägt die vorherige Spannung, aus den gleichen Gründen, in eine zunehmend langweilige Abfolge zufälliger Episoden um.

Bis dahin ist „The Mastermind“, musikalisch unterlegt mit einem wunderschön experimentell-jazzigem Soundtrack von Rob Mazurek (Chicago Underground), ein sich auf Details und seine Figuren konzentrierender, minimalistischer, unterkühlter und auch realistischer Heist-Thriller, der in einer Zeit spielt, als auch wertvolle Gemälde in öffentlichen Ausstellungen kaum gesichert waren.

Ohne die Schwächen in der zweiten Hälfte, vor allem im dritten Akt, wäre „The Mastermind“ ein perfekter Film für den Cineasten, New-Hollywood-Fan und Fan von Siebziger-Jahre-Gangsterfilmen. So reiht sich Reichardts gewohnt ruhig erzählter Film in die dieses Jahr erstaunlich umfangreiche Reihe der Filme ein, die eine überzeugende, teils sogar grandiose erste Hälfte haben und an einem bestimmten Punkt in der zweiten Hälfte ihren Plot eigentlich erzählt haben oder vollständig verlieren und in jedem Fall zunehmend langweilen.

The Mastermind (The Mastermind, USA 2025)

Regie: Kelly Reichardt

Drehbuch: Kelly Reichardt

mit Josh O’Connor, Alana Haim, Sterling Thompson, Jasper Thompson, Hope Davis, Bill Camp, John Magaro, Gaby Hoffmann, Eli Gelb

Länge: 111 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „The Mastermind“

Metacritic über „The Mastermind“

Rotten Tomatoes über „The Mastermind“

Wikipedia über „The Mastermind“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Kelly Reichardts “Night Moves” (Night Moves, USA 2013 – mit zahlreichen O-Tönen von Kelly Reichardt und den Schauspielern)

Meine Besprechung von Kelly Reichardts „Night Moves“ (Night Moves, USA 2013 – zur DVD-Veröffentlichung)

Meine Besprechung von Kelly Reichardts „Certain Women“ (Certain Women, USA 2016)

Meine Besprechung von Kelly Reichardts „First Cow“ (First Cow, USA 2019)


Neu im Kino/Filmkritik: Der sensible SW-USA-Städtetrip „Come on, come on“

März 25, 2022

Johnny reist gerade durch die USA. Für sein neues Projekt fragt der Radiojournalist Jugendlichen, wie nach ihrer Meinung die Zukunft, also die kommende Gesellschaft und ihr Leben, aussehen wird. Abends reflektiert er in anonymen Hotelzimmern den Tag. In Detroit ruft er seine Schwester, zu der er eigentlich keinen Kontakt mehr hat, an. Es ist der Todestag ihrer Mutter.

Viv muss sich dringend um ihren Ex-Mann kümmern. Der Klassik-Musiker leidet an einer bipolaren Störung und er ist gerade wieder in einer schwierigen Phase. Deshalb bittet sie Johnny, einige Tage auf ihren neunjährigen Sohn Jesse aufzupassen.

Der kinderlose, angenehm verschluffte Johnny ist einverstanden. In den ersten Tagen, in Vivs Haus, lernen sie sich kennen. Sie gehen auch zum Strand. Jesse ist altklug, verhaltensauffälllig und ein typisches Filmkind, das in der Realität äußerst nervig wäre. Danach nimmt Johnny Jesse, mit Vivs nachträglich eingeholtem Einverständnis, mit auf seiner Reise durch die USA. Zunächst sind sie in seinem Heimatort New York, später in New Orleans. Dort befragt Johnny weitere Jugendliche. Diese Interviews sind ein zentraler Teil von Mike Mills neuem Film „Cone on, come on“ (bzw. „C’mon C’mon“).

Der andere zentrale Teil ist die Annäherung von Johnny und Jesse. Johnny übernimmt jetzt zum ersten Mal Verantwortung für einen Menschen und er muss sich mit der Rolle eines Erziehungsberichtigten auseinandersetzen. Jesse, und damit wären wir bei einem weiteren zentralen Teil des sensibel und geduldig beobachtenden Dramas, mit Johnnys Mikrophon die Welt zu erkunden. Die Geräusche, die er aufnimmt und die ohne das Mikrophon in dem Chaos der Geräusche nicht zu hören wären, verändern auch den Blick auf seine Umgebung.

Mills‘ neuer Film lebt davon, wie er verschiedene Elemente nebeneinander tupft. Er lässt sie nebeneinander stehen. Er öffnet so einen Raum für Assoziationen und zum Nachdenken. Das gilt besonders für die Interviews die Johnny mit echten Jugendlichen führte. Sie sprechen über sich. Einige erkannten dabei Johnny-Darsteller Joaquin Phoenix als den aktuellen „Joker“, andere erkannten den Schauspieler nicht. Es ist dieser improvisierte Gestus, der liebevolle Blick auf seine Figuren und die atmosphärische SW-Fotografie, die für den Film einnehmen, der eher ein Gedicht oder eine Collage als ein straff nach gängigen Hollywood-Drehbuchregeln durchkomponiertes Drama ist. Den eigentlich passiert nicht viel.

Die Städtetour durch die USA vermittelt durchgehend ein angenehmes Nouvelle-Vague-Gefühl. Mills selbst nennt explizit Wim Wenders‘ ebenfalls in SW gedrehtes Roadmovie „Alice in den Städten“.

Die Musik ist von den „The National“-Musikern Aaron und Bryce Dessner. Sie schrieben auch die Musik für das seit einigen Tagen im Kino laufende Musical „Cyrano“.

Come on, come on (Come on, come on, USA 2021)

Regie: Mike Mills

Drehbuch: Mike Mills

mit Joaquin Phoenix, Gaby Hoffmann, Woody Norman, Scoot Mcnairy, Molly Webster, Jaboukie Young-White, Deborah Strang, Sunni Patterson

Länge: 114 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

alternative Schreibweise „C’mon C’mon“ (manchmal auch mit einem Komma)

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Come on, come on“

Metacritic über „Come on, come on“

Rotten Tomatoes über „Come on, come on“

Wikipedia über „Come on, come on“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „Der große Trip – Wild“ – Selbsterfahrung, the American Way

Januar 17, 2015

Besonders groß sind die Sympathien mit Cheryl Strayed am Anfang von „Der große Trip – Wild“ nicht. Denn die 26-jährige will, ohne ein Jota Wandererfahrung, aber mit einer anscheinend aus dem Alles-was-Sie-für-eine-lange-Wanderung-brauchen-Katalog zusammengekauften Ausrüstung, die sie kaum tragen kann, den über viertausend Kilometer (bzw. 2663 Meilen) langen Pacific Crest Trail, einen Wanderweg an der US-Westküste, der sich von der mexikanischen bis zur kanadischen Grenze erstreckt, abwandern.
Diese Wanderung soll, wie man aus den assoziativ eingefügten Rückblenden erfährt, ihr Weg zu einer inneren Läuterung und einem besseren Leben sein. Vor der Wanderung war ihr Leben ein einziges Chaos aus Sex, Drogen, gescheiterten Beziehungen und ohne Perspektive.
Drei Monate wandert sie durch die Wüste, den Schnee und unberührte Wälder bis sie nach 1100 Meilen an ihrem Ziel ist. Später schrieb Strayed über Selbstfindung beim Wandern das Buch „Wild: From Lost to Found on the Pacific Crest Trail“ (Der große Trip). Schon vor der Veröffentlichung kaufte Reese Witherspoon das Buch, das ein Bestseller wurde. Sie übernahm auch die Hauptrolle und jetzt wurde sie dafür, nach zahlreichen anderen Nominierungen (wie Bafta und Golden Globe), auch für den Oscar als beste Hauptdarstellerin nominiert. Laura Dern, die ihre Mutter spielt, wurde als beste Nebendarstellerin nominiert.
Und Witherspoons Leistung bei diesem Wanderfilm ist auch beeindruckend.
Allerdings funktioniert bei dem von „Dallas Buyers Club“-Regisseur Jean-Marc Vallée inszeniertem Film die Struktur von Strayeds Bericht im Film nur bedingt. Strayed wandert. Sie muss gegen ihren inneren Schweinehund und ihre Unerfahrenheit ankämpfen. Das gelingt ihr mit der manischen Energie einer Süchtigen, die sich jetzt ein Ziel gesetzt hat, das sie unbedingt erreichen möchte. Sie trifft andere Wanderer und Anwohner des Wanderweges. Diese Menschen sind – wie es in der Realität nun einmal ist – normalerweise nett und hilfsbereit. Sie erinnert sich an ihre Vergangenheit.
Das alles funktioniert in einem Erlebnisbericht, bei dem sich viel im Kopf des Erzählers abspielt, besser als in einem Film. Denn gerade diese Innensicht, diese Selbstgespräche und Erinnerungen (die immerhin in Rückblenden illustriert werden können), sind nicht filmisch. Außerdem fehlt Strayeds Wanderung, im Gegensatz zu, beispielsweise, „All is Lost“ (mit Robert Redford) oder „Spuren“ (mit Mia Wasikowska), die lebensbedrohliche Dimension. Strayed muss in „Der große Trip – Wild“ nicht um ihr Leben, sondern gegen ihren inneren Schweinehund kämpfen. Mit von Anfang an bekanntem Ergebnis.
So überzeugt „Der große Trip – Wild“ vor allem als Leistungsschau einer Schauspielerin, garniert mit schönen Landschaftsaufnahmen.

Der große Trip - Wild - Plakat

Der große Trip – Wild (Wild, USA 2014)
Regie: Jean-Marc Vallée
Drehbuch: Nick Hornby
LV: Cheryl Strayed: Wild, 2012 (Der große Trip)
mit Reese Witherspoon, Laura Dern, Thomas Sadoski, Michiel Huisman, Gaby Hoffmann, Kevin Rankin, W. Earl Brown, Mo McRae, Keene McRae
Länge: 116 Minuten
FSK: ab 12 Jahre

Hinweise
Amerikanische Homepage zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Der große Trip – Wild“
Moviepilot über „Der große Trip – Wild“
Metacritic über „Der große Trip – Wild“
Rotten Tomatoes über „Der große Trip – Wild“
Wikipedia über „Der große Trip – Wild“ (deutsch, englisch)
History vs. Hollywood über „Der große Trip – Wild“
Meine Besprechung von Jean-Marc Vallées „Dallas Buyers Club“ (Dallas Buyers Club, USA 2013)
Homepage von Nick Hornby
Homepage von Cheryl Strayed