Neu im Kino/Filmkritik: „Die Theorie von Allem“ im Multiversum des Kinos

Oktober 27, 2023

Dieser Film soll sich anfühlen ein Traum.“

(Timm Kröger, Regie)

1974 hat Johannes Leinert in einer Talkshow einen seltsamen Auftritt. Er hat einen Science-Fiction-Roman veröffentlicht und behauptet jetzt, dass es Multiversen und Parallelewelten gibt und dass er in seinem Roman eine Geschichte erzähle, die er selbst erlebt habe.

Danach springt die Geschichte zwölf Jahre zurück und wir erfahren die Hintergründe, die zu seinem Buch und dem Auftritt in der Talkshow führten. 1962 wurde Leinert von Dr. Julius Strathen, seinem Doktorvater, zu einem Kongress ins noble Hotel Esplanade in den Schweizer Alpen eingeladen. Der Höhepunkt soll der Vortrag eines iranischen Wissenschaftlers zur Quantenmechanik sein. In ihm will er die Theorie von Allem entwerfen.

Doch der Stargast kommt nicht. Die Gäste pendeln zunächst zwischen Dinnerpartys und Skiausflügen. Leinert arbeitet weiter an seiner Promotion in theoretischer Physik. Er trifft eine Femme-Fatale-Hotelpianistin, die Dinge über ihn weiß, die sie nicht wissen kann. Selbstverständlich verliebt er sich in die geheimnisvolle Schönheit. Als die Tagung abgesagt wird, leert sich das Hotel. Gleichzeitig häufen sich seltsame Ereignisse. Ein Tagungsteilnehmer wird tot aufgefunden. Die beiden ermittelnden Polizisten vermuten einen Mord.

Noch schneller als wir uns an die Bergluft gewöhnen können, spielt die Konferenz der Physiker keine Rolle mehr. Sie löst sich in Luft auf. Dabei hätte man so schön über universitäre und elitäre Dünkel und abgehobene physikalische Theorien schwadronieren können. Mit der abgesagten Konferenz sind dann auch schwuppdiwupp eigentlich alle Hotelgäste weg. Alles wird zunehmend beliebig. Erklärt werden die seltsamen und widersprüchlichen Ereignisse mit der Existenz von Paralleluniversen. Diese Erklärung führt in „Die Theorie von Allem“ zu der gleichen Laxheit im Denken, die wir auch in den Superheldenfilmen, die in Multiversen spielen, ertragen müssen. Alles ist möglich. Nichts ist wichtig.

Am Ende hatte ich, wieder einmal, den Eindruck, dass die Macher sich nicht weiter darum kümmerten, wie ihre Welten zusammenhängen und miteinander interagieren. Sie sind, vor allem in den Superheldenfilmen, voneinander vollkommen unabhängige Spielwiesen, in denen ausprobiert wird, was dem Publikum gefällt. Was gefällt, wird fortgefüht; was nicht gefällt wird fortan ignoriert und schnellstens vergessen. In „Die Theorie von Allem“ wird ähnlich verfahren. Es gibt die verschiedenen Welten, die in irgendeiner Verbindung zueinander stehen. Oft ist unklar, in welcher Welt die Szene gerade spielt, wie viele es gibt und in welcher Beziehung sie zueinander stehen.

Im Gegensatz zu den Filmen von David Lynch (den Timm Kröger als eine Inspiration für seinen Film nennt) bleibt sein Film emotional leer. „Die Theorie von Allem“ ist kein Abstieg in einen „Twin Peaks“-Wahnsinn, sondern eine zunehmend egale intellektuelle Spielerei mit vielen Anspielungen auf andere Filme. Diese Anspielungen und die vorzügliche Kameraarbeit von Roland Stuprich trösten etwas darüber hinweg, wie eine gute Ausgangsidee nach einem überzeugenden Anfang in den Sand oder, in der Sprache des Films, ein anderes Universum gesetzt wurde.

folgen wir hier der tragischen (& vielleicht allzu altbekannten) Geschichte eines unentdeckten Genies oder betrachten wir die leicht paranoiden Verirrungen eines unfertigen Idioten, der metaphysischen Schatten hinterherjagt? Dieser Film tut immer beides. Schrödingers Katze ist hier sozusagen genial und hirntot zugleich.“

(Timm Kröger, Co-Drehbuchautor)

Die Theorie von allem (Deutschland/Österreich/Schweiz 2023)

Regie: Timm Kröger

Drehbuch: Timm Kröger, Roderick Warich

mit Jan Bülow, Olivia Ross, Hanns Zischler, Gottfried Breitfuß, Philippe Graber, David Bennent, Ladina Carla von Frisching, Imogen Kogge

Länge: 118 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Die Theorie von Allem“

Moviepilot über „Die Theorie von Allem“

Rotten Tomatoes über „Die Theorie von Allem“

Wikipedia über „Die Theorie von Allem“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Über Christoph Hochhäuslers „Bis ans Ende der Nacht“

Juni 22, 2023

Auf dem Papier klingt es ja noch interessant: ein Polizist und ein Spitzel sollen in einem Undercover-Einsatz einen Drogenhändler überführen.

Doch schon die ausführlichere Synopse des bewährten Plots stimmt skeptisch. Das scheint dann doch ziemlich gekünstelt zu sein. Und der Film ist hoffnungslos vermurkst. Lustlos bedient „Bis ans Ende der Nacht“ die verschiedenen Genretopoi und Klischees. Da gibt es etwas Noir, Polizeithriller, Fassbinder-Melodrama und deutsche Schlager, die nicht zum restlichen Film passen. Bestenfalls sind sie als eigenständiger Kommentar zum Film goutierbar. Regisseur Christoph Hochhäusler und Drehbuchautor Florian Plumeyer begraben in ihrem Film eine Beziehungsgeschichte, die durchaus Potential für einen gelungenen Film gehabt hätte, unter den Erfordernissen einer Kriminalgeschichte, für die sich nicht interessieren.

Der verdeckte Ermittler Robert Demant soll mit Leni Malinowski den Online-Drogenhändler Victor Arth überführen. Mit Victor war Leni vor ihrem aktuellen Gefängnisaufenthalt befreundet. Jetzt soll sie einen Kontakt zwischen Robert und Victor herstellen und für Robert, der sich als potentieller Drogenkäufer ausgibt, bürgen.

Schwierig wird der Einsatz, weil – und das wissen Roberts Vorgesetzte – Robert und Leni eine Beziehung haben. Vor Lenis Haft waren sie ein Liebespaar. Jetzt muss Robert mit seinen Gefühlen gegenüber Leni, die er als Mann kennen und lieben lernte, zurechtkommen. Außerdem ist sie drogenabhängig, hat ein elend langes Strafregister und ist eine in jeder Beziehung schwierige Person. Für den Undercover-Einsatz wurde sie mit einer vorzeitigen Entlassung geködert. Sie stimmte zu und verlangte, dass Robert ihr Partner ist.

Allein schon die Entscheidung dieses Pärchen, das sich in inniger Haßliebe verbunden ist, auf diese Mission zu schicken, ist der Weg zum Scheitern. Und macht den Krimiplot von der ersten bis zur letzten Sekunde unglaubwürdig.

Im Mittelpunkt des Krimidramas steht dann auch nicht der über weite Strecken des Films vollkommen ignorierte Krimiplot, sondern die schwierige Beziehung zwischen Robert und Leni und ihre sich entwickelnde Freundschaft zu dem Online-Drogenhändler und Discobetreiber Victor Arth und seiner Frau. Sie lernen sich bei einem ausführlich gezeigtem Tanzkurs kennen. Victor ist bei diesen Treffen charmant, überwacht seine Frau auf Schritt und Tritt und ist nie bei seinen beruflichen Tätigkeiten als Clubbesitzer und Drogenhändler zu sehen. Er könnte auch jeden anderen Beruf haben. Und er ist erstaunlich unbeeindruckt von Lenis Geschlechtsumwandlung, die er als Mann kennen lernte. Er akzeptiert ihre Geschlechtsumwandlung wie ein neues Etikett auf einer Bierflasche.

Diese Beziehungsgeschichten kommen gut ohne den Krimiplot aus. Sie wären sogar ohne den lustlos mitgeschleiften Krimiplot stärker.

Die nächste seltsame Entscheidung Hochhäuslers ist, Robert Demant zum Protagonisten zu machen. Alles kreist sich um seine widerstreitenden Gefühle gegenüber Leni. Dabei wäre die in jeder Beziehung äußerst problematische Leni die bessere Wahl gewesen. Ihre psychischen Probleme und, damit verbunden, die Probleme von Transpersonen sind interessanter als Roberts Selbstzweifel, die nur die Zweifel eines mittelalten weißen Mannes sind.

Bis ans Ende der Nacht (Deutschland 2023)

Regie: Christoph Hochhäusler

Drehbuch: Florian Plumeyer

mit Timocin Ziegler, Thea Ehre, Michael Sideris, Ioana Iacob, Rosa Enskat, Aenne Schwarz, Gottfried Breitfuß, Sahin Erylmaz, Ronald Kukulies

Länge: 120 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Bis ans Ende der Nacht“

Moviepilot über „Bis ans Ende der Nacht“

Rotten Tomatoes über „Bis ans Ende der Nacht“

Wikipedia über „Bis ans Ende der Nacht“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Bis ans Ende der Nacht“

Meine Besprechung von Christoph Hochhäuslers „Die Lügen der Sieger“ (Deutschland/Frankreich 2014)