Neu im Kino/Filmkritik: Der Gewinner des Silbernen Bären 2025: „Das tiefste Blau“

September 26, 2025

In einer Zukunft, die sich kaum von der Gegenwart unterscheidet, werden Menschen ab einem bestimmten Alter in eine einsam gelegene Seniorenkolonie, die wir niemals sehen, abgeschoben. Mit dem Bild von alten Menschen, die in Käfigen sitzen, in denen früher wahrscheinlich Hunde und ähnlich große Tiere transportiert wurden und die auf Ladeflächen von Jeeps befestigt sind, und die geduldig auf ihren Transport in die Seniorenkolonie warten und einer digitalen Bibel schafft Gabriel Mascaro das sparsam gezeichnete, aber dennoch überzeugende Bild einer Dystopie. Die anderen Bilder unterscheiden sich kaum von älteren Filmen mit ausdehnten Bootsfahrten, wie „The African Queen“ und „Apocalypse Now“, die beide nicht in Südamerika spielen.

In dieser Welt lebt die 77-jährige Tereza (Denise Weinberg) in einer kleinen Industriestadt im Amazonasgebiet allein und selbstbestimmt in ihrer Hütte. Sie ist zufrieden mit ihrem Leben. Sie arbeitet und möchte auch weiter arbeiten.

Aber jetzt ist sie in dem Alter, in dem sie ein Anrecht auf einen Platz in der Seniorenkolonie hat.

Bevor sie demnächst dorthin abgeschoben wird, möchte Tereza die Welt kennen lernen und fliegen. Für einen Flug in einem regulären Flugzeug braucht sie wegen ihres Alters eine Einverständniserklärung ihrer Tochter. Die Tochter ist dagegen. Da erfährt Tereza, dass sie in Itacoatiara in einem nicht-kommerziellen Flugzeug mitfliegen kann. Der einzige Weg dorthin ist in einem Boot, das den Amazonas befährt. Zusammen mit Cadu, einem verschuldetem Glücksritter und Besitzers eines kleinen Kutters, macht sie sich auf den verschlungenen und mit Hindernissen gesäumten Weg.

Auf der diesjährigen Berlinale erhielt Gabriel Mascaros „Das tiefste Blau“ den Großen Preis der Jury, auch bekannt als Silberner Bär, den Preis der Ökomenischen Jury und den Preis der Leserjury der Berliner Morgenpost. Entsprechend hoch sind die Erwartungen und es gibt vieles, was für den etwas anderen Science-Fiction-Film spricht.

Wegen seiner Struktur gehört „Das fiefste Blau“ allerdings zu den Filmen, die irgendwann in der Filmmitte von einem spannenden Film zu einem tödlichen Langweiler werden. In dem Moment ist die Geschichte des Films erzählt. Die zweite Hälfte wiederholt dann entweder noch einmal die Geschichte und Aussage des ersten Teils oder es wird eine vollkommen neue, deutlich uninteressantere Geschichte begonnen. In diesem Fall wird Tereza am Ende ihrer Reise und Rückkehr aus Itacoatiara inhaftiert. Jetzt soll die fluchtgeneigte Alte wirklich in die Seniorenkolonie gebracht. Sie flüchtet wieder und in dem Moment könnte „Das tiefste Blau“ enden. Jascaros erzählt ab diesem Moment von einer zweiten Bootsfahrt von Tereza. Dieses Mal fährt sie mit einer Nonne, die digitale Bibeln verkauft. In dieser Hälfte des Films erfahren wir nichts wesentlich Neues über die gewitzte Tereza und ihren unbändigen Freiheitsdrang.

Gegen die so entstehende Langeweile verblassen die gelungenen Punkte das Films, wozu unbedingt die mit sparsamsten Mitteln wunderschön skizzierte Utopie, die atmosphärischen Bildern aus dem Dschungel und die guten Schauspieler gehören.

Das macht „Das tiefste Blau“ zu einem weiteren Film, den man mitten während der Vorführung verlassen sollte. Jedenfalls wenn man einen guten Film sehen will.

Das tiefste Blau (O Último Azul, Brasilien/Mexiko/Niederlande/Chile 2025)

Regie: Gabriel Mascaro

Drehbuch: Gabriel Mascaro, Tibério Azul (in Zusammenarbeit mit Murilo Hauser und Heitor Lorega)

mit Denise Weinberg, Rodrigo Santoro, Miriam Socarras, Adanilo

Länge: 86 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

internationaler Titel: The Blue Trail

Hinweise

Moviepilot über „Das tiefste Blau“

Metacritic über „Das tiefste Blau“

Rotten Tomatoes über „Das tiefste Blau“

Wikipedia über „Das tiefste Blau“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Das tiefste Blau“


Neu im Kino/Filmkritik: „Für immer hier“, der Gewinner des Oscars als Bester Internationaler Film

März 13, 2025

Zugegeben, die Konkurrenz für „Für immer hier“ bei den diesjährigen Oscars in der Kategorie „Bester internationaler Film“ war stark, aber auch etwas schräg. „Flow“ (gleichzeitig als bester Animationsfilm nominiert) und „Emilia Pérez“ (gleichzeitig als bester Film nominiert) hätten zweimal eine Bester-Film-Trophäe erhalten könnnen. Auch „Für immer hier“ war als bester Film nominiert und er hätte, wie 2020 „Parasite“, zweimal Bester Film werden können. Diese doppelte Gewinnchance halte ich gegenüber den anderen Filmen für etwas unfair.

Bei den beiden weiteren als Bester Internationaler Film nominierten Filmen, nämlich „Das Mädchen mit der Nadel“ und, als deutscher Beitrag, „Die Saat des heiligen Feigenbaums“, gab es dann keinen eindeutigen Favouriten.

Denn keiner der Filme ist vollkommen schlecht, aber jeder Film hat seine spezifischen Vorzüge und Probleme. So erzählt Walter Salles die Geschichte einer Entführung aus einer ungewohnten Perspektive. Dass es sich um eine wahre Geschichte handelt, wird erst am Ende gesagt. Das erklärt nachträglich auch einige der auf den ersten Blick seltsamen Reaktionen der Figuren, die es so in einer erfundenen Geschichte wahrscheinlich nicht gäbe. Und es erklärt den arg langen, sich über mehrere Jahre, fast bis zur Gegenwart, erstreckenden fast halbstündigen Epilog, der auch unter „was danach geschah“ firmieren kann und auf den ersten Blick der Hauptgeschichte nichts beifügt. Es macht nur aus einem schlanken Film, der seine Geschichte in deutlich unter zwei Stunden erzählt ein fast 140-minütiges, sich am Ende wie Kaugummi ziehendes Werk.

Für immer hier“ spielt hauptsächlich in den frühen siebziger Jahren in Brasilien. Das sudamerikanische Land war von 1964 bis 1985 eine Militärdiktatur. Damals verschwanden unzählige Menschen, die mehr oder weniger gegen die Regierung waren, spurlos. Was genau mit ihnen geschah, ist bis heute oft nicht geklärt. Meistens wurden sie gefoltert, ermordet und irgendwo vergraben.

Am 20. Januar 1971 verschwindet, nachdem er von Männern, die sich als Mitglieder der Luftstreitkräfte ausgaben und ihn mitnahmen, der in Rio de Janeiro lebende Rubens Paiva. Er war Bauingenieur, von 1962 bis zu ihrer Auflösung 1965 Mitglied der Partido Trabalhista Brasileiro (Brazilian Labour Party, PTB) und ein zum linken Flügel der Partei gehörender Kongressabgeordneter. Nach dem Staatsstreich des Militärs ging er nach Europa ins Exil. Er kehrte nach einigen Monaten zurück zu seiner Familie und half Menschen, die von der Militärdiktatur verfolgt wurden, während er nach außen ein normales bürgerliches Leben lebte. Außerdem ist er verheiratet und Vater von fünf Kindern.

Im folgenden schildert Walter Salles („Die Reise des jungen Che“, „On the Road – Unterwegs“), wie Hans-Christian Schmid in seinem Drama „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ über die Entführung von Jan Philipp Reemtsma, die Leiden der Familie. Sie warten auf Nachrichten. Sie müssen sich mit der Situation und dem möglichen Tod des Verschwundenen zu arrangieren. Ins Zentrum rückt in „Für immer hier“ Rubens zunächst politisch desinteressierte Ehefrau Eunice (fantastisch gespielt von Fernanda Torres). Sie versucht, die Familie zusammen zu halten und auf das Schicksal ihres vermutlich schon toten Mannes aufmerksam zu machen.

Als Inspiration für seinen Film diente Salles seine Bekanntschaft mit der Familie Paiva als Jugendlicher und Marcelo Rubens Paivas Buch über seine Mutter, seinen verschwundenen Vater und seine Familie. Salles und seine Drehbuchautoren Murilo Hauser und Heitor Lorega rückten dann die Mutter und ihre Geschichte in den Mittelpunkt des Films.

Der Ansatz, die Geschichte eines Entführten aus der Geschichte der Zurückgebliebenen zu erzählen, ist durchaus interessant. Es geht um die Ungewissheit, was mit dem Entführten geschehen ist und, in diesem Fall, um das Leben in einer Diktatur. Wie bei unzähligen anderen Verschwundenen, wurde nie vollständig geklärt, was mit Rubens Paiva geschah. 1996 wird er für Tod erklärt. Seine Leiche wurde bis jetzt nicht gefunden.

In Brasilien war der Film ein Kassenhit, der Diskussionen über diesen Teil der brasilianischen Geschichte anstieß.

Für immer hier (Ainda Estou Aqui, Brasilien 2024)

Regie: Walter Salles

Drehbuch: Murilo Hauser, Heitor Lorega

LV: Marcelo Rubens Paiva: Ainda Estou Aqui, 2015

Musik: Warren Ellis

mit Fernanda Torres, Fernanda Montenegro, Selton Mello, Valentina Herszage, Luiza Kozovski, Maria Manoella, Marjorie Estiano, Bárbara Luz, Cora Mora, Gabriela Carneiro da Cunha, Olivia Torres, Guilherme Silveira, Antonio Saboia

Länge: 138 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Für immer hier“

Metacritic über „Für immer hier“

Rotten Tomatoes über „Für immer hier“

Wikipedia über „Für immer hier“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Walter Salles‘ „On the Road“ (On the Road, USA/GB/F/BR, 2012)