Neu im Kino/Filmkritik: Über Henry Alex Rubins „Semper Fi“

Juli 11, 2020

Die Geschichte spielt vor fünfzehn Jahren in Bridgewater, einer Kleinstadt im US-Bundesstaat New York. Aber sie könnte auch in der Gegenwart spielen. Oder vor dreißig, vierzig Jahren. Denn Bridgewater ist eine dieser Kleinstädte, in denen sich wenig ändert. Die Hauptpersonen sind fünf junge Männer, die sich schon seit Ewigkeiten kennen, aus der Arbeiterklasse sind und, außer einem ehrlichen Job und einer liebenden Familie, keine großen Träume haben. Es ist alles so, wie in den siebziger Jahren, als es noch viele Fabrikarbeiterjobs gab. Naja, und das ist ein kleiner Unterschied: damals wären sie und die Nebenfiguren in „Semper Fi“ wahrscheinlich alle weiße Männer gewesen. Ansonsten verkörpern sie fast schon prototypisch die Männer und die Welt, die Bruce Springsteen in seinen Songs besingt.

Im Mittelpunkt von Henry Alex Rubins Film stehen die Halbbrüder Callahan ‚Cal‘ (Jai Courtney) und Oyster (Nat Wolff). Cal ist Polizist, beliebt, regeltreu und verantwortungsbewusst. Sein jüngerer Halbbruder sucht noch seinen Weg. Er will später als Besitzer und Koch eines Imbisses Geld verdienen. Bis dahin gibt es noch einige Wochenenden, an denen er sich betrinken kann. Ihre Freunde Jaeger (Finn Wittrock), Milk (Beau Knapp) und Snowball (Arturo Castro) haben verschiedene Jobs, Beziehungen und auch Kinder.

Sie gehören alle auch zu einer Reserve-Einheit der Marine. Ihre Wochenenden verbringen sie bei militärischen Übungen, die sie weiter zusammenschweißen.

Eines Abends gerät Oyster in eine dieser Kneipenschlägereien, die mit zu viel Alkohol beginnen und über ein, zwei Fausthiebe zu einem blauen Auge und einer Platzwunde führen. Auf der Restaurant-Toilette schlägt er seinen Gegner, – eigentlich stößt er ihn auf der Toilette eher von sich weg – und er fällt so unglücklich, dass er tot ist. Voller Angst vor einer Haftstrafe flüchtet Oyster. Denn er wurde schon für zwei Verbrechen bestraft und jetzt droht ihm in jedem Fall eine besonders lange Haft.

Noch in der gleichen Nacht findet und verhaftet sein Bruder Cal ihn.

Acht Monate später sitzt Oyster im Gefängnis. Er hat mit 25 Jahren eine auch aus Sicht seiner Freunde und Bekannten unverhältnismäßig hohe Strafe für einen tödlichen Unfall unter Alkoholeinfluss erhalten. Sein Bruder und die von ihm geführte Reservisteneinheit sind im Irak, wo sie Hilfstätigkeiten ausführen.

In der ersten halben Stunde von „Semper Fi“ und damit vor der tödlichen Schlägerei, konzentriert Rubin sich auf die Freundschaft zwischen den Kleinstadtjungs. Im zweiten Akt erzählt er, was mit ihnen allen danach geschieht. Die Frage, ob Cals Loyalität seiner Familie oder dem Staat gilt, wird kaum weiterverfolgt. Anstatt nach Drehbuchregeln eine Frage, ein Dilemma, zu behandeln, weicht „Semper Fi“ in das episch-breit beschreibende aus. In einem Roman funktioniert das gut. In einem Film führt das eher zu einer gewissen Bräsigkeit. Denn bei vielen Szenen ist nicht zu erkennen, wie sie die Hauptgeschichte voranbringen.

Im dritten Akt will Cal dann seinen Bruder aus dem Gefängnis befreien. In diesem Moment wird „Semper Fi“ unvermittelt zu einem Thriller mit viel Suspense.

Alle drei Teile kompetent inszeniert. Aber insgesamt lässt der Film einen etwas unbeteiligt zurück. Er weiß nicht, was er will. Er schwankt zwischen den Stilen, trifft einige interessante erzählerische Entscheidungen, vermeidet aber Zuspitzungen und bleibt unter seinem Potential. Und zwar wegen der von Rubin getroffenen Entscheidungen, die halt dazu führen, dass Cals Dilemma immer wieder an den Rand geschoben wird zugunsten des Erzählens über das Leben der Kleinstadtjungs und ihren alltäglichen Sorgen. Diese Reportieren ist dann nicht auf ein bestimmtes Ziel fokussiert, sondern ein aus objektiver, gottgleicher Perspektive erzählter Bericht.

Im dritten Akt, wenn Cal seinen Bruder aus dem Gefängnis befreien will, ändert sich das. Die Jungs halten immer noch zusammen. Aber jetzt wollen sie ein Verbrechen begehen.

Semper Fi“ ist einer der Filme, bei denen man sich fragt, warum man ihn im Kino sehen sollte, dann aber, wenn er im Fernsehen läuft, dran bleibt.

Henry Alex Rubin drehte vorher das unbekannte, aber sehenswerten Ensembledrama „Disconnect“ (Disconnect, USA 2012).

Semper Fi (Semper Fi, USA/Großbritannien 2019)

Regie: Henry Alex Rubin

Drehbuch: Henry Alex Rubin, Sean Mullin

mit Jai Courtney, Nat Wolff, Finn Wittrock, Beau Knapp, Arturo Castro, Leighton Meester

Länge: 100 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Semper Fi“

Metacritic über „Semper Fi“

Rotten Tomatoes über „Semper Fi“

Wikipedia über „Semper Fi“

Meine Besprechung von Henry Alex Rubins „Disconnect“ (Disconnect, USA 2012)


Neu im Kino/Filmkritik: „Disconnect“ im realen Leben

Januar 30, 2014

 

Seine Premiere hatte „Disconnect“ bereits im September 2012 auf dem Toronto International Film Festival und seitdem hat der Ensemblefilm nichts von seiner Aktualität verloren. Im Gegenteil. An der Oberfläche geht es in den, je nach Zählung, ungefähr fünf, mehr oder weniger lose miteinander verknüpften Geschichten um das Internet und wie es unser Leben verändert. Aber eigentlich geht es Drehbuchautor Andrew Stern und Regisseur Henry-Alex Rubin um Beziehungen zwischen Ehepaaren, zwischen Eltern und Kindern und zwischen Liebenden und wie sehr sie alle, aus verschiedenen Gründen nicht mehr miteinander verbunden sind.

Es gibt eine TV-Reporterin, die einen minderjährigen Online-Stripper interviewen möchte. Der erklärt sich zu dem Interview bereit, möchte dann aber mehr von ihr, gerät in Konflikt mit seinem Chef und er möchte auch gar nicht aus dem Sexgeschäft aussteigen. Dennoch will die Journalistin ihn aus dem Sex-Business befreien.

Es gibt ein junges Ehepaar, das nach dem Tod ihres Babys nicht mehr miteinander redet. Auch nicht über seine Kriegserlebnisse. In einem Online-Chat lernt sie einen netten Mann kennen, der ihr in der seelischen Krise hilft. Plötzlich sind ihre Konten leer geräumt. Der von ihnen engagierte Detektiv verfolgt die Spur der Betrüger zu diesem Chat-Partner.

Der Detektiv selbst ist Vater. Sein Sohn und dessen Freund narren einen introvertierten Klassenkameraden mit einer gefälschten Netz-Identität, in der sie eine in ihn verliebte Schulkameradin sind.

Als dieser den Betrug entdeckt, versucht er sich umzubringen. Seine Eltern fragen sich, warum ihr Sohn sich umbringen wollte. Vor allem der Vater, ein immer beschäftigter Anwalt, beginnt nach Antworten zu suchen. Er beginnt mit dem Computer seines Sohnes und entdeckt dort, dass er eine Freundin hatte.

Disconnect“ ist, auch wenn die Kamera etwas zu sehr pseudodokumentarisch wackelt, ein hochkarätig besetzter Ensemblefilm in bester „Short Cuts“- und „L. A. Crash“-Tradition, der durch seine offene Struktur sein Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und verschiedene Facetten ansprechen kann, ohne an dramaturgischer Wucht zu verlieren. Dabei verknüpft Rubin die Geschichten organisch miteinander zu der eindeutigen Botschaft: Redet miteinander. Nicht über das Smartphone, sondern ganz altmodisch und ohne technische Hilfsmittel.

Disconnect - Plakat

Disconnect (Disconnect, USA 2012)

Regie: Henry-Alex Rubin

Drehbuch: Andrew Stern

mit Jason Bateman, Hope Davis, Frank Grillo, Michael Nyqvist, Paula Patton, Andrea Riseborough, Alexander Skarsgård, Max Thieriot, Colin Ford, Jonah Bobo, Haley Ramm

Norbert Leo Butz

Länge: 115 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Amerikanische Homepage zum Film

Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „Disconnect“

Moviepilot über „Disconnect“

Metacritic über „Disconnect“

Rotten Tomatoes über „Disconnect“

Wikipedia über „Disconnect“