Beginnen wir gleich, um die Größe des Scheiterns zu Illustrieren, mit dem größten Problem des Films: es wird keine einzige Jahreszahl eingeblendet. Auch andere Orientierungsmarken für eine schnelle zeitliche Einordnung sind bestenfalls rudimentär vorhanden. Wer mit dem Namen Coppi nichts verbindet, könnte problemlos vermuten, dass der Film in der DDR oder irgendeiner anderen wahren oder erfundenen Diktatur spielt.
Das tut er nicht. Er spielt während der Nazi-Diktatur. Und die Hauptpersonen in Andreas Dresens neuem Film, wieder nach einem Drehbuch von Laila Stieler, gehören zur „Roten Kapelle“.
Die „Rote Kapelle“ war die größte und ist immer noch die unbekannteste Widerstandsgruppe gegen die Nazi-Diktatur. Sie war nämlich als loses Netzwerk organisiert und existierte, weil die Nazis einfach Ereignisse und Menschen zu dieser Gruppe zusammenfassten. Heute sind ungefähr vierhundert Mitglieder der Gruppe namentlich bekannt. Die meisten Mitglieder lebten in Berlin. Der gemeinsame Nenner war, wie der Name nahelegt, dass die Mitglieder irgendwie kommunistisch waren und sie während des Zweiten Weltkriegs Spionage für die Sowjetunion betrieben.
Sie verteilten Flugblätter, halfen Juden und Oppositionellen, dokumentierten Verbrechen der Nazis, schrieben aufklärerische Briefe an Soldaten, die an der Ostfront kämpften, und sie versuchten, zur Übermittlung strategisch wichtiger Nachrichten, ein stabil funktionierendes Funknetz in die Sowjetunion aufzubauen.
Im Gegensatz zu anderen Widerstandskämpfern, wie die Gruppe um Graf von Stauffenberg, die Geschwister Scholl oder der Einzeltäter Georg Elser, die heute allgemein bekannt sind, arbeiteten die Mitglieder der „Roten Kapelle“ im Verborgenen.
Nach dem Krieg wurde die „Rote Kapelle“ in der Bundesrepublik und der DDR unterschiedlich beurteilt. In der DDR wurden sie als Helden verehrt. Im Westen ignoriert. Erst in den letzten Jahren zeichnete sich eine Veränderung der Wahrnahme ab.
Dresens „In Liebe, eure Hilde“ kann dazu sicher weiter beitragen.
Er erzählt nicht historisierend, sondern gegenwärtig und den Freiheitsdrang der jungen Protagonisten ernst nehmend und zeigend.
Allerdings sind sie, wobei der Film sich auf Hilde Coppi konzentriert, die meiste Zeit im Gefängnis. Abgesehen von einigen Rückblenden erzählt Dresen nur von Hilde Coppis Zeit im Gefängnis zwischen ihrer Verhaftung am 12. September 1942 und ihrem Tod am 5. August 1943. Am 27. November 1942 kam im Frauengefängnis Barnimstraße Berlin ihr Sohn Hans Coppi junior zur Welt.
Dresen schildert, wie sie im Gefängnis lebt und überlebt, ohne ihre Freunde zu verraten. Denn zusammen mit ihrem Mann Hans und ihren Freunden kämpfen sie gegen die Regierung. Über den Sinn und Unsinn ihrer Aktionen diskutieren sie im Film nicht. Diese Entscheidung haben sie bereits vorher getroffen. Jetzt überkleben sie Nazi-Plakate mit eigenen Botschaften, drucken und verteilen Flugblätter, für die Hilde Coppin während ihrer Arbeit als Sachbearbeiterin bei der Reichsversicherungsanstalt das Papier besorgt. Sie transportiert auch ein Funkgerät durch Berlin in die Tegeler Kleingartenkolonie „Am Waldessaum“, in der sie seit 1941 mit ihrem Mann lebte.
Währenddessen bringt Hans sich das Funken bei. Danach senden sie, ohne zu wissen, ob jemand sie hört, Nachrichten in Richtung Osten.
Neben ihrer Untergrundtätigkeit sind sie einfach junge Leute, die Leben wollen und im See baden. Der 1916 geborene Hans und die 1909 geborene Hilde, die sich erstmals 1940 trafen und im Juni 1941 heirateten, sind auch ein Liebespaar.
Diese Rückblenden schildert Andreas Dresen dann mit einem Nouvelle-Vague-Feeling und ohne zeittypische Insignien, wie schwarz-weiß-rote Nazi-Fahnen, Hakenkreuze und marschierenden Soldaten. Das, die Sprache und ein lässiger Umgang mit der Ausstattung (so gibt Dresen im Presseheft unumwunden zu, dass auch bei H&M eingekauft wurde) machen die Liebesgeschichte zeitlos. Die Bedrohung wird aus ihrem Verhalten spürbar.
In den im Gefängnis spielenden Szenen zeigt er dann, wie die gefangenen Frauen um ihre Würde kämpfen und wie die stille Hilde Coppi nie ihren Optimismus verliert. Obwohl sie keine Chance hat, das Gefängnis lebendig zu verlassen.
„In Liebe, eure Hilde“ ist mehr ein Liebesfilm über Liebe unter widrigen Umständen als ein Film über tapfere Widerstandskämpfer, die vom Drehbuch genötigt werden, in langen Monologen ihre Motivation zu erklären. Das ist kein Nachteil, sondern erfrischend anders.
Nein, eigentlich ist der größte Nachteil des Films nur ein Nachteil für Menschen, die sich an der Kinokasse spontan für den Film entscheiden, weil ihnen das Plakat und der Titel gefallen. Wer die Namen Hans und Hilde Coppi kennt, wer schon einmal etwas von der „Roten Kapelle“ gehört hat (auch wenn die Fremdbezeichnung „Rote Kapelle“ im Film nicht genannt wird), den wird das Fehlen von Jahreszahlen nicht stören. Er weiß, dass die Geschichte während des Zweiten Weltkriegs spielt.

In Liebe, eure Hilde (Deutschland 2024)
Regie: Andreas Dresen
Drehbuch: Laila Stieler
mit Liv Lisa Fries, Johannes Hegemann, Lisa Wagner, Alexander Scheer, Emma Bading, Sina Martens, Lisa Hrdina, Florian Lukas
Länge: 125 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Filmportal über „In Liebe, eure Hilde“
Moviepilot über „In Liebe, eure Hilde“
Rotten Tomatoes über „In Liebe, eure Hilde“
Wikipedia über „In Liebe, eure Hilde“ (deutsch, englisch)
Berlinale über „In Liebe, eure Hilde“
Meine Besprechung von Andreas Dresens „Als wir träumten“ (Deutschland/Frankreich 2015)
Meine Besprechung von Andres Dresens „Gundermann“ (Deutschland 2018)
Meine Besprechung von Carl-Ludwig Rettingers „Die Rote Kapelle“ (Deutschland/Belgien/Israel 2020)
Veröffentlicht von AxelB