Neu im Kino/Filmkritik: „Kingdom – Die Zeit, die zählt“ zwischen Kindern und Verbrecher-Eltern

Oktober 26, 2025

‚Kingdom – Die Zeit, die zählt‘ ist eine Tragödie, in der das Schicksal in seiner langsamen Trägheit die Geschichte zermalmt. Ich wollte die Maschinerie der Ganoven in ihrem unausweichlich programmierten Aussterben zeigen. Die Verbrecher werden weder heroisiert noch geheiligt; im Gegenteil, sie werden als Büßer ihres eigenen Lebens gezeigt, als Geister, die bereits tot sind, es aber noch nicht wissen.“

Julien Colonna (Regie)

Mitte der neunziger Jahre besteht das Leben eines Mafiosi am Mittelmeer nicht mehr in großen Geschäften und dem Protzen mit seinem Einfluss, sondern aus der Flucht vor der Polizei und dem Untertauchen in verschiedenen Safe Houses auf Korsika. Für die pubertierende Tochter Lesia bedeutet das dann, die nackten Wände von ihrem Zimmer anzustarren, während die Erwachsenen das Meer anstarren.

Die Idee einen Gangsterfilm aus der Sicht einer Teenagerin, die die Tochter eines Gangsterbosses ist, zu erzählen, lässt einen ungewöhnlichen Blick erwarten. Vor allem wenn diese Perspektive mit einer Coming-of-Age-Geschichte und einer Vater-Tochter-Geschichte verknüpft wird. Jetzt hat der von ihr verklärte Vater, wenn er nicht mit seinen Verbrecherkollegen abhängt, endlich viel Zeit für sie. Und dass sie sich für die in dieser Gesellschaft wichtigen ‚Jungsvergnügen‘ interessiert, hilft.

Das Ergebnis ist dann eine ziemlich träge Angelegenheit, die sich wie das Warten auf die Razzia der Polizei (kein Verbrecher wartet auf Godot) anfühlt.

Denn Julien Colonna erzählt in seinem Spielfilmdebüt extrem langsam und dialogarm. Außerdem wird die Geschichte aus der Perspektive eines Kindes erzählt. Lesia ist nur eine entfernte Beobachterin des Geschehens, das mit einem tödlichen Anschlag auf einen Politiker beginnt und die Mafiosi zwingt, in einem einsam gelegenen Haus unterzutauchen. Warum sie genau untertauchen mussten und was sie tun, um sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, erfahren wir nicht. Denn die Erwachsenen versuchen, möglichst viel vor ihr zu verheimlichen.

So bleibt nur eine seltsam verquere, statische Tochter-Vater-Geschichte, in der die Tochter einen Berufsverbrecher bewundert, während sein Imperium gerade gaaanz laaangsam untergeht.

Kingdom – Die Zeit, die zählt (Le Royaume, Frankreich 2024)

Regie: Julien Colonna

Drehbuch: Julien Colonna, Jeanne Herry

mit Ghjuvanna Benedetti, Saveriu Santucci, Anthony Morganti, Andrea Cossu, Frédéric Poggi, Régis Gomez, Eric Ettori, Thomas Bronzini, Pascale Mariani, Attilius Ceccaldi, Ghjuvanni Biancucci, Joseph Pietri, Marie Murcia

Länge: 111 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Kingdom – Die Zeit, die zählt“

AlloCiné über „Kingdom – Die Zeit, die zählt“

Metacritic über „Kingdom – Die Zeit, die zählt“

Rotten Tomatoes über „Kingdom – Die Zeit, die zählt“

Wikipedia über „Kingdom – Die Zeit, die zählt“ (englisch, französisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Über das Road-Movie „791 km“, das Drama „All eure Gesichter“, den Noir „Eileen“ und das Biopic „Munch“

Dezember 16, 2023

Wegen eines Sturmtief stellt die Bahn ihren Betrieb ein und verteilt Taxi-Gutscheine an die am Abend in München im Hauptbahnhof gestrandeten Passagiere. Die pensionierte Professorin und verbal rüstige Alt-Prostlerin Marianne (Iris Berben), das zerstrittene Pärchen Tiana (Nilam Farooq), die am nächsten Vormittag eine für ihr Start-Up wichtige Präsentation, und Freund, der tiefenentspannte Schluffi Philipp (Ben Münchow), und die geistig behinderte Susi (Lena Urzendowsky) entern Josephs Taxi. Jeder von ihnen muss aus einem anderen wichtigen Grund am nächsten Tag in Hamburg sein.

Als der notorisch schlecht gelaunte Joseph (Joachim Król) die Taxi-Gutscheine sieht und erfährt, dass er jeden Gutschein einzeln abrechnen kann, ist er bereit von München nach Hamburg zu fahren.

In seinem Feelgood-Film „791 km“ erzählt Tobi Baumann („Faking Hitler“), wie die fünf Menschen, die sich zufällig getroffen haben, sich auf der nächtlichen Fahrt quer durch Deutschland näher kommen. Und wie es das Drehbuch so will, sind sie alle gegensätzliche und sich entsprechnd gut ergänzende Archetypen, die auch ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft sind. Das ist immer eine Spur zu didaktisch erzählt und zu sehr in Richtung TV-Bildschirm erzählt, um auf der großen Kinoleinwand zu begeistern.

791 km (Deutschland 2023)

Regie: Tobi Baumann

Drehbuch: Gernot Gricksch (nach einer Idee von Tobi Baumann)

mit Iris Berben, Joachim Król, Nilam Farooq, Ben Münchow, Lena Urzendowsky, Langston Uibel, Barbara Philipp, Denis ‚Marschall‘ Ölmez, Götz Otto

Länge: 103 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Filmportal über „791 km“

Moviepilot über „791 km“

Wikipedia über „791 km“

In einem Stuhlkreis sitzen Täter und Opfer eines Verbrechens und reden darüber. ‚restorative justice‘ nennt sich die Methode. Es geht um einen formalisierten Prozess des gegenseitigen Verstehens und auch Verzeihens. Sie ähnelt dem bei uns als Täter-Opfer-Ausgleich bekannten Modell.

In seinem Spielfilm „All eure Gesichter“ zeigt Jeanne Herry („In sicheren Händen“) mehrere dieser Prozesse und sie zeigt die Chancen, die diese Methode hat. Sie geht auch auf die Voraussetzungen, aber nicht auf die Beschränkungen ein.

Trotzdem ist „All eure Gesichter“ als karg inszeniertes, sich auf seine Schauspieler, die sich teils im Stuhlkreis, teils direkt gegenüber sitzen, konzentrierendes Dialogdrama sehenswert. Das Kammerspiel für die große Leindwand regt zum Nachdenken über Schuld, Sühne und verschiedene Methoden einer Verarbeitung an.

All eure Gesichter (Je verrai toujours vos visages, Frankreich 2023)

Regie: Jeanne Herry

Drehbuch: Jeanne Herry, Chloé Rudolf

mit Birane Ba, Leïla Bekhti, Dali Benssalah, Elodie Bouchez, Suliane Brahim, Jean-Pierre Darroussin, Adèle Exarchopolous, Gilles Lellouche, Miou-Miou, Denis Podalydès

Länge: 118 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

AlloCiné über „All eure Gesichter“

Moviepilot über „All eure Gesichter“

Rotten Tomatoes über „All eure Gesichter“

Wikipedia über „All eure Gesichter“ (englisch, französisch)

Massachusetts im Winter 1964: die schüchterne Eileen Dunlop (Thomasin McKenzie) lebt noch bei ihrem Vater, einem jähzornigem Alkoholiker, und arbeitet im Jugendgefängnis als Sekretärin. Ihr triester Alltag verändert sich schlagartig, als die neue Psychologin des Gefängnisses eintrifft. Rebecca Saint John (Anne Hathaway) ist ein Marilyn-Monroe-Lookalike, die sofort allen Männern den Kopf verdreht. Aber dann lädt die Femme Fatale Eileen zu einem Drink ein.

Eileen“ ist die langweilige Arthaus-Version eines Noirs. Für einen gelungenen Noir entwickelt sich die Geschichte viel zu langsam und nebulös. Ehe dann im dritten Akt plötzlich alles anders wird.

Eileen (Eileen, USA 2023)

Regie: Willliam Oldroyd

Drehbuch: Ottessa Moshfegh, Luke Goebel

LV: Ottessa Moshfegh: Eileen, 2015 (Eileen)

mit Thomasin McKenzie, Anne Hathaway, Shea Whigham, Marin Ireland, Owen Teague

Länge: 98 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Eileen“

Metacritic über „Eileen“

Rotten Tomatoes über „Eileen“

Wikipedia über „Eileen“ (deutsch, englisch)

In seinem Biopic „Munch“ über den Künstler Edvard Munch (12. Dezember 1863 – 23. Januar 1944) (Ja, das ist der mit dem Bild „Der Schrei“, das die Ghostface-Maske in den „Scream“-Filmen inspirierte.) erzählt Henrik M. Dahlsbakken das schwierige Leben des Künstlers zwischen Alkoholismus, Genie und Wahnsinn nicht chronologisch nach. Er zersplittert es auf mehrere Zeitebenen, zwischen den er kontextlos hin und her springt und er lässt Munch von drei Schauspielern und einer Schauspielerin spielen. Sie spielen ihn als 21-, 29-, 45- und 80-jährigen Mann. Und für jeden Munch-Schauspieler gibt es einen eigenen Stil.

Das Ergebnis ist ein sich experimentell gebendes Biopic, das wenig über den Künstler verrät und einen erstaunlich unberührt lässt.

Munch (Munch, Norwegen 2023)

Regie: Henrik M. Dahlsbakken

Drehbuch: Mattis Herman Nyquist, Gina Cornelia Pedersen, Fredrik Høyer, Eivind Sæther

mit Alfred Ekker Strande, Mattis Herman Nyquist, Ola G. Furuseth, Anne Krigsvoll, Anders Baasmo Christiansen, Lisa Carlehed, Jesper Christensen

Länge: 105 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Munch“

Rotten Tomatoes über „Munch“

Wikipedia über „Munch“ und Edvard Munch (deutsch, englisch)