Wer gerade in Balkonien urlaubt und „Das Kanu des Manitu“ ignorieren möchte, kann mit den beiden Neuauflagen von „Sturz in die Tiefe“ und „Erster Adler“ in die Ferne und in die Vergangenheit schweifen. Denn das Amerika, das Tony Hillerman beschreibt, gibt es nicht mehr.
Schon zu seinen Lebzeiten – Hillerman starb 2008 – verschwanden immer mehr Traditionen und Riten der Navajo, die er in seinen Kriminalromane mit den Navajo-Polizisten Joe Leaphorn und Jim Chee präzise wie ein Ethnologe beschrieb. Diese Kultur ist ein wichtiger Bestandteil im Leben seiner beiden Ermittler und, was noch wichtiger ist, untrennbar mit den Fällen verbunden.
In „Sturz in die Tiefe“ (ursprünglich als „Tod am heiligen Berg“ veröffentlicht) könnte der verwitwete und seit kurzem pensionerte Joe Leaphorn seinen Ruhestand genießen. Als am Ship Rock, einem heiligen Berg der Navajos, die Leiche eines Kletterers gefunden wird, erinnert er sich an einen alten Fall und mischt sich in den neuen Fall von Jim Chee ein.
Leaphorn vermutet, dass es sichbei dem Skelett um den vor elf Jahren verschwundenen Hal Breedlove, Extremkletterer und Erbe einer reichen Rancherfamilie, handelt. Er glaubt, dass Breedlove ermordet wurde. Und damit stellen sich einige drängende Fragen: Wer begleitete Breedlove? Warum hat sein Mitkletterer den Unfall nicht gemeldet? Und wer hat ein Interesse an Breedloves Tod?
In „Erster Adler“ (ursprünglich als „Die Spur des Adlers“ veröffentlicht) wird im Hopi-Reservat ein Navajo-Polizist erschlagen. Der mutmaßliche Täter ist ein Hopi, der illegal Adler fängt. Trotz überzeugender Beweise beteuert er seine Unschuld. Chee und Leaphorn (jaja, die goldene Zeit des Ruhestand mit zu viel Zeit) glauben ihm. Aber wer ist dann warum der Mörder?
In seinen achtzehn, im Original zwischen 1970 und 2006 erschienenen Leaphorn/Chee-Kriminalromanen schrieb Tony Hillerman gegen das Verschwinden der Navajo-Traditionen an. In den 36 Jahren wurde er zum Chronisten dieses Wandels. Als Vehikel für die ausführliche Beschreibung der Kultur, Traditionen und Riten wählte er den Kriminalroman, erfand vertrackte Fälle (auch wenn sie dieses Mal einfacher geraten sind) und glaubwürdige Figuren. Die beiden Ermittler und ihre Frauen altern, entwickeln und verändern sich über die Romane. Das gilt vor allem für Jim Chee, der in den ersten Büchern am Beginn seiner Karriere als Polizist steht. In „Sturz in die Tiefe“, dem zwölften Leaphorn/Chee-Krimi, und „Erster Adler“, dem dreizehnten Leaphorn/Chee-Krimi „Erster Adler“ sind sie dann ein schon seit einigen einigen Büchern ein gut eingespieltes Team.
Trotzdem kann jeder Roman unabhängig von den anderen gelesen werden und sie können eigentlich auch in jeder beliebigen Reihenfolge gelesen werden. Solange sie gelesen werden.
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Tony Hillerman: Sturz in die Tiefe
(übersetzt von Klaus Fröba, nach dem Original durchgesehen und überarbeitet von Andreas Heckmann)
Unionsverlag, 2025
288 Seiten
14 Euro
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Deutsche Erstausgabe
Tod am heiligen Berg
Rowohlt Verlag, 1998
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Originalausgabe
The Fallen Man
HarperCollins Publishers, New York 1996
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Tony Hillerman: Erster Adler
(übersetzt von Fried Eickhoff, nach dem Original durchgesehen und überarbeitet von Veronika Straaß-Lieckfeld)
Tony Hillerman (27. Mai 1925, Sacred Heart, Oklahoma – 26. Oktober 2008, Albuquerque, New Mexico)
„Crime fiction doesn’t come much better than in the books of Tony Hillerman or, for that matter, much different.“ (Mike Ashley, Hrsg.: The Mammoth Encyclopedia of Modern Crime Fiction, 2002)
„Tony Hillermans Romane beschwören eine Stimmung, der man sich kaum entziehen kann und die ebenso geprägt ist von der Landschaft des amerikanischen Südwestens wie von einer Kultur, die im Untergang begriffen ist. Seine Romane sind Abgesänge darauf – und der Versuch, wenigstens die Erinnerung daran zu bewahren. Und vielleicht auch ein bißchen mehr.“ (Rudi Kost/Thomas Klingenmaier: Steckbriefe, 1995)
Seinen Durchbruch hatte Tony Hillerman nicht mit seinem ersten Roman und er war auch kein Über-Nacht-Erfolg. Es dauerte einige Romane und Jahre, bis er außerhalb der eingeschworenen Krimiszene bekannter wurde. Ab den achtziger Jahren veröffentlichte er normalerweise alle zwei Jahre einen neuen Roman. Dabei war in seinem Debüt „Wolf ohne Fährte“ (The blessing way, 1970) bereits alle Elemente vorhanden, für die er später nicht nur bei Krimifans bekannt und beliebt wurde. Sein zweiter Kriminalroman „Tanzplatz der Toten“ (Dancehall of the Dead, 1973) wurde mit den Edgar als bester Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet. In einem gewissen Rahmen war er in diesem Moment seiner Zeit voraus. Denn er schrieb ‚Indianerkrimis‘ als noch niemand darüber redete und noch niemand ‚Kulturelle Approbiation‘ buchstabieren konnte. Es gab damals aber schon Diskussionen darüber, ob Weiße Blues spielen können.
Denn Tony Hillerman ist von seiner Herkunft ein Weißer mit deutschen und englischen Vorfahren. Seine Schulzeit verbrachte er, weil es in der winzigen Siedlung Sacred Heart keine andere Schule gab, in der Mädchenschule der Barmherzigen Schwestern. Seine Freunde waren Potawatomi und Seminole. Er war, in seinen Worten, ein „Ein-Mann-Minderheiten-Problem“.
Nach seiner Schulzeit ging er 1943 zur US-Armee, wurde schwer verwundet, besuchte die University of Oklahoma, schloss 1948 sein Journalismus-Studium ab und wurde Journalist für Zeitungen in Texas, Oklahoma und New Mexiko. 1963 zog er mit seiner Frau nach Albuquerque, New Mexiko. An der dortigen Universität machte er einen Masters in Kreativem Schreiben und unterrichtete dort ab 1966 über zwanzig Jahre Journalismus.
Ab 1970 veröffentlichte er, zuerst mit Joe Leaphorn von der Navajo Tribal Police als Ermittler, später mit dem deutlich jüngeren, tiefer in der Navajo-Kultur verwurzeltem Jim Chee als angehendem Ermittler bei der Navajo Tribal Police, und noch später, ab dem siebten Roman „Stunde der Skinwalker“ (Skinwalkers, 1986), mit beiden zusammen als sich langsam findendes Ermittlerteam, Dabei ließ Hillerman sie altern. insgesamt 18 Kriminalromane, die im Reservat der Navajos spielen und in denen Hillerman wie ein Ethnologe über viele Seiten minutiös die Riten der Navajos, die sich selbst Diné nennen, schildert. In einer grandiosen Verkennung der besonderen Qualität seines ersten Manuskrips forderte sein Agent, dass Hillerman dieses Indianerzeugs zugunsten des Krimiplots herauskürzen sollte. Hillerman blieb standhaft. Denn so gut seine Krimiplots sind (und allein schon wegen ihnen wären die Krimis lesenswert), zu etwas wirklich besonderem werden sie wegen des ethnologischen Blicks auf die Riten und Traditionen der Navajos. Und deren Einstellung zum Leben.
Hillerman erzählt in seinen Leaphorn/Chee-Kriminalromanen auch, wie sehr diese Traditionen seit den frühen siebziger Jahren bis zu seinem Tod 2008 aus dem Leben der Navajos verschwanden. Er zeichnete sie auf, bewahrte sie in seinen Büchern auf (wozu auch Non-Leaphorn/Chee-Bücher zählen) und begeisterte viele jüngere Menschen für eben diese Kultur.
Und er setzte die Reservate als einen möglichen Schauplatz für spannende Geschichten auf die literarische Landkarte.
Schon zu Lebzeiten erhielt er zahlreiche Preise und ungefähr jeden wichtigen Krimipreis. Die für ihn persönlich wichtigste Auszeichnung war der ihm vom Navajo Tribal Council verliehene Titel „Special Friend of the Diné“.
Aktuell veröffentlich der Unionsverlag seine Joe-Leaphorn/Jim-Chee-Romane in durchgesehenen Neuauflagen in chronologischer Reihenfolge. Den Abschluss sollte die Übersetzung seines letzten, bislang nicht übersetzten Romans „The Shape Shifter“ bilden.
Seit 2013 führte Tony Hillermans Tochter Anne Hillerman die Leaphorn/Chee-Serie mit bislang neun Romanen fort.
Seit 2022 zeigt der US-TV-Sender AMC die auf Hillermans Romanen basierende, in den siebziger Jahren spielende Serie „Dark Winds“. Sie soll gut sein. Hillermans Krimis sind definitiv gut.
Aktuell ist der Kriminalroman in einer überarbeiteten Neuausgabe beim Unionsverlag als „Tanzplatz der Toten“ erhältlich. Dort erscheinen auch seine anderen, ebenso lesenswerten Romane mit den Navajo-Polizisten Joe Leaphorn und Jim Chee, die im Navajo-Reservat Verbrechen aufklären.