Neu im Kino/Filmkritik: Die un(?)glücklichen Tage meiner Kindheit und Jugend: „Dídi“ & „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“

August 16, 2024

Chris Wang ist dreizehn Jahre alt. Youri ist sechzehn Jahre alt. Und wenn Sean Wang in „Dìdi“ und Fanny Liatard und Jérémy Trouilh in „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ ohne Beschönigungen von Chris‘ und Youris Leben erzählen, bewegen sie sich immer auf Augenhöhe mit ihren Figuren. Ihre Filme sind Filme mit Kindern als Protagonisten, aber keine Kinderfilme; jedenfalls keine dieser für Erwachsene unerträglichen Kinderfilme.

In „Dìdi“ geht es um den taiwanesisch-amerikanischen Jungen Chris Wang, genannt „Wang Wang“. Er lebt 2008 in Fremont, Nordkalifornien, das normale Leben eines Teenagers. Er fetzt sich mit seiner Familie, vor allem mit seiner altklugen Schwester, die sich auf ihr im Herbst beginnendes Studium an der University of California vorbereitet, sucht Schutz bei seiner dickköpfigen Großmutter, versucht sich über sein Verhältnis zu seiner Mutter klar zu werden, treibt Unfug mit seinem besten Freund, sucht Anerkennung in Cliquen, fährt Skateboard und dreht kurze Videos, die er auf Myspace veröffentlicht.

Alltag eben, den Sean Wang in seinem autobiographisch inspiriertem Regiedebüt, ohne einen echten Plot, mit viel Sympathie für seine Figuren, ihre Gefühle und Beziehungen schildert. Er schildert auch die Probleme, die Immigranten und ihre Kinder haben, wenn sie zwischen zwei Kulturen leben und versuchen, respektiertes Mitglied einer anderen Kultur und Gemeinschaft zu werden.

Dídi ist Mandarin. Die wörtliche Bedeutung ist „kleiner Bruder“, aber chinesische Eltern verwenden es auch als Kosewort für ihre jüngeren Söhne.

Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ hat nur insofern etwas mit dem sowjetischen Kosmonauten Yuri Gagarin zu tun, weil der Film in einem inzwischen abgerissenem Wohnkomplex spielt, der nach ihm benannt wurde. Gagarin war der erste Mensch im Weltraum. Am 12. April 1961 umrundete er einmal die Erde.

Die Gagarin-Hochhaussiedlung wurde in den frühen sechziger Jahren in der Banlieue von Paris errichtet. Damals war das die Utopie von zukunftsträchtigem Wohnen. Schnell wurden die Probleme und Defizite der Architektenutopie deutlich. Am Ende war Gagarin so heruntergekommen, dass ein Abriss günstiger als eine Renovierung des asbestverseuchten Gebäudes war. Dieser Abriss erfolgte 2019. Die Bewohner sollten in andere Wohnkomplexe in Frankreich verteilt werden.

Aber für die Bewohner ist Gagarin Heimat und Bewohner bilden eine Gemeinschaft. Trotzdem ziehen sie nacheinander weg. Nur Youri bleibt. Während um ihn herum das Gebäude langsam abgerissen wird, erbaut er sich in der Mietwohnung eine Raumstation. Er versorgt sich selbst und lebt immer mehr wie ein Weltraumreisender.

Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ ist eine geglückte Mischung aus dokumentarischem Sozialdrama, Magischem Realismus, wunderschönen, das Gebäude, die Menschen und ihre Gemeinschaft feiernden Kinobildern und, trotz der eigentlich sehr traurigen Geschichte, ein hemmungslos positiver Film.

Die Anfänge für den Film reichen bis in das Jahr 2014 zurück. Damals nahmen Fanny Liatard und Jérémy Trouilh dokumentarische Bilder und Interviews mit den Bewohnern auf. Die Initiative dafür ging von einige Architekten aus, mit denen sie befreundet waren und die über die Möglichkeit einer Zerstörung von Gagarin nachdenken sollten. Fünf Jahre später dokumentierten sie dann die im Film zu sehende Zerstörung von Gagarin.

Gagarin“ ist eine einzige Liebeserklärung an die Siedlung und ihre aus vielen Ländern, vor allem den früheren französischen Kolonien kommenden, oft armen und arbeitslosen Bewohner. Dieser dokumentarische Teil erdet Youris immer fantastischer werdende Geschichte, während die Kamera durch das Gebäude streift und, in der ersten Hälfte des Films, die Bewohner und ihr Leben zeigt.

Dìdi (Dìdi (弟弟), USA 2024)

Regie: Sean Wang

Drehbuch: Sean Wang

mit Izaac Wang, Joan Chen, Shirley Chen, Chang Li Hua, Mahaela Park, Raul Dial, Aaron Chang, Chiron Cilia Denk

Länge: 94 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Dídi“

Metacritic über „Dídi“

Rotten Tomatoes über „Dídi“

Wikipedia über „Dídi“ (deutsch, englisch)

Gagarin – Einmal schwerelos und zurück (Gagarine, Frankreich 2020)

Regie: Fanny Liatard, Jérémy Trouilh

Drehbuch: Benjamin Charbit, Fanny Liatard, Jérémy Trouilh

mit Alseni Bathily, Lyna Khoudri, Jamil McCraven, Finnegan Oldfield, Farida Rahouadj, Denis Lavant, Cesar ‚Alex‘ Ciurar, Rayane Hajmessaoud, Hassan Baaziz, Salim Balthazard, Elyes Boulaïche, Fabrice Brunet, Jacques Cissoko, Mamadou Cissoko, Hassoun Dembele

Länge: 98 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“

AlloCiné über „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“

Metacritic über „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“

Rotten Tomatoes über „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“

Wikipedia über „Gagarin – Einmal schwerelos und zurück“ (deutsch, englisch, französisch)


DVD-Kritik: Jessica Chastain wählt den „Code Ava“

Oktober 26, 2020

Ein Film mit Jessica Chastain, Colin Farrell, John Malkovich, Common, Geena Davis und Joan Chen, inszeniert von Tate Taylor, der bei uns direkt auf DVD erscheint. Das wäre zu normalen Zeiten ein deutliches Warnsignal. Aber im Moment sieht das anders aus. Viele Filme, die eigentlich jetzt im Kino laufen sollten, werden auf ein späteres Datum verschoben oder gleich auf DVD und bei den Streamingdiensten veröffentlicht. Das prominenteste Beispiel für diese Politik ist Disneys „Mulan“. Insofern sagt eine Direct-to-DVD-Veröffentlichung im Moment noch weniger als sonst über die Qualität eines Films aus.

Die Story von „Code Ava – Trained to kill“ liest sich wie ein weiterer Frauen-übernehmen-Männerrollen-in-Actionfilmen-Plot: Ava (Jessica Chastain) ist eine eiskalte Profikillerin, die für eine anonym bleibende Organisation, die nur Management genannt wird, Menschen tötet. Sie ist selbstverständlich die beste Killerin der Firma. Allerdings ist sie auch eine trockene Alkoholikerin und sie hat die Marotte, ihre Opfer zu fragen, warum sie sie töten soll. Bevor sie sie tötet. Ihr aktueller Job verläuft aufgrund fehlerhafter Informationen anders als geplant. Anstatt einem als Unfall getarntem Mord, veranstaltet sie notgedrungen ein wahres Schlachtfest an ihrem Opfer und einer halben Hundertschaft flugs herbeigeeilter Soldaten. Danach soll sie eine Auszeit nehmen. Diese will sie in ihrem Geburtsort Boston machen. Dort war sie seit acht Jahren nicht mehr. Ihre Schwester und ihre Mutter leben immer noch in Boston.

In der Stadt ist sie schnell in alte Familien- und Beziehungsprobleme verwickelt. Sie trifft alte Bekannte aus der Halbwelt, was Ärger bedeutet. Das Management, vertreten durch ihren Chef Simon (Colin Farrell), will sie aus bestenfalls halbherzig erklärten Gründen umbringen.

Das klingt nach einer Actionthrillerstory vom Reißbrett. Aber nach Filmen wie „Nikita“, bzw. dem US-Remake „Codename: Nina“ und einer TV-Serie, die uns hier nicht weiter interessieren muss, Luc Bessons überflüssigem de facto „Nikita“-Remake „Anna“ , „Lucy“ (ebenfalls von Besson, aber etwas eigenständiger als „Anna“) und „Atomic Blonde“ kann das Endergebnis ein verdammt guter Film sein.

In diesem Fall sendet der Verleih mit der Werbung für den Thriller schon ein deutliches Signal zur Qualität des Films. Er nennt von Regisseur Tate Taylor prominent nur seinen Thriller „Girl on the Train“. Der ist ein ziemlich banaler ‚Frauenkrimi‘, bei dem Genrefans das Ende von Buch (ein Bestseller) und Film schon nach dem Lesen der Kurzsynopse kennen. Taylors andere Filme – „The Help“, „Get on Up“ und „Ma“ – spielen in einer ganz anderen Liga. Einer Liga, an die „Code Ava“ noch nicht einmal im Ansatz heranreicht.

Denn „Code Ava“ ist ein vermurkster Actionthrillers, der bestenfalls wie ein Torso wirkt, dem irgendwo zwischen der ersten Idee und dem finalen Schnitt die Geschichte abhanden gekommen ist. Jetzt ist es eine missglückte Mischung aus Actionthriller von der Stange (die Organisation will ihren besten Mann umbringen, der wehrt sich) und Familiendrama von der Stange mit aufgesetztem Noir-Touch (das verlorene Schaf kehrt nach Jahren wieder zurück in seine alte Heimat und alte Wunden brechen auf). Die Story wird zunehmend abstrus. Die Dialoge wären sogar in einer TV-Serie bestenfalls funktional. Die Schauspieler sind konsequent unterfordert in diesem B-Picture.

Code Ava“ ist einer der wenigen Fehlschläge in Jessica Chastains Filmographie.

Code Ava – Trained to kill (Ava, USA 2020)

Regie: Tate Taylor

Drehbuch: Matthew Newton

mit Jessica Chastain, John Malkovich, Colin Farrell, Common, Geena Davis, Jess Weixler, Ioan Gruffudd, Diana Silvers, Joan Chen, Efka Kvaraciejus, Christopher J. Domig

DVD (Blu-ray identisch)

EuroVideo

Bild: 2,40:1 (16:9)

Ton: Deutsch, Englisch (DD 5.1)

Untertitel: Deutsch, Untertitel für Hörgeschädigte

Bonusmaterial: Behind the Scenes, Trailer

Länge: 93 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Ava“

Metacritic über „Ava“

Rotten Tomatoes über „Ava“

Wikipedia über „Ava“

Meine Besprechung von Tate Taylors „The Help“ (The Help, USA 2010)

Meine Besprechung von Tate Taylors „Get on Up“ (Get on Up, USA 2014)

Meine Besprechung von Tate Taylors „Girl on the Train“ (Girl on the Train, USA 2016)

Meine Besprechung von Tate Taylors „Ma“ (Ma, USA 2019)


TV-Tipp für den 18. April: Der letzte Kaiser

April 17, 2020

https://www.youtube.com/watch?v=4fuDMfqaNyU

One, 20.15

Der letzte Kaiser (The last Emperor, Großbritannien/Italien/Volksrepublik China 1987)

Regie: Bernardo Bertolucci

Drehbuch: Bernardo Bertolucci, Marc People (nach der Biographie von Pu Yi)

Monumentalepos über Pu Yi, der 1908 als Dreijähriger zum Herrscher über China wird, schon 1912, als China zur Republik wird, seinen Thron verliert, anschließend zum Spielball der Machthaber und der Politik wird und 1967 als Gärtner stirbt.

Bernardo Bertolucci durfte als erster europäischer Regisseur in der ‚Verbotenen Stadt‘ drehen. Seinen Film konnte er nach seinen eigenen Vorstellungen realisieren. Der Lohn waren, unter anderem, neun Oscars (u. a. Bester Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch, Beste Kamera) und zahlreiche weitere Preise.

keine detailvernarrte Bebilderung der Autobiographie, sondern die durchkomponierte Umsetzung des Stoffes aus der Sicht eines Europäers, der bei aller Faszination von dem exotischen Ambiente seinen Stil beibehält. ‚Der letzte Kaiser‘ ist der erste wirkliche Monumentalfilm unserer Zeit, der nicht mit dem Makel von Pappkulissen und Holzschwertern behaftet ist. Bei allem Aufwand (…) verliert Bertolucci seine Hauptfigur nicht aus dem Blickfeld.“ (Fischer Film Almanach 1988)

Anschließend, um 22.50 Uhr, zeigt One die halbstündige Doku „Hollywood’s Best Film Directors: Bernardo Bertolucci“ (dabei hatte Bertolucci nie etwas mit Hollywood am Hut).

Mit John Lone, Joan Chen, Peter O’Toole, Richard Vuu, Tijger Tsou, Wu Tao, Ryuichi Sakamoto

Wiederholung: Montag, 20. April, 02.10 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Der letzte Kaiser“

Wikipedia über „Der letzte Kaiser“ (deutsch, englischI