Neu im Kino/Filmkritik: Wer war „Niki de Saint Phalle“?

März 24, 2025

Ihre verspielten Nana-Figuren kennt wahrscheinlich jeder. Aber diese fröhlichen, bunten und voluminösen Frauenfiguren, für die Niki de Saint Phalle (1930 – 2002) bekannt ist, tauchen in dem nach ihr benannten Biopic nicht auf. Das Biopic konzentriert sich auf die frühen fünfziger Jahre und endet 1960. Also Jahre vor ihrem Durchbruch und den ersten Nana-Figuren. Die entstanden 1965.

Auch ihre vor den Nana-Figuren entstandenen Werke, wie die ‚Schießbilder‘, mit denen sie 1956 erstmals auf sich aufmerksam machte, werden nicht gezeigt. Regisseurin Céline Sallette zeigt nur, immer aus der Sicht des Werkes, wie Niki de Saint Phalle sie anfertigt und ihre und die Reaktionen anderer Menschen auf diese Werke.

Niki de Saint Phalle“ ist ein Film über eine Künstlerin ohne ein Werk von ihr zu zeigen. Und das funktioniert als Künstler-Biopic überhaupt nicht.

Als Biopic ist Céline Sallette „Niki de Saint Phalle“ eine Abfolge falscher Entscheidungen. Das eine ist der bereits erwähnte Verzicht darauf, die Werke der Künstlerin zu zeigen. Im Film ist Niki de Saint Phalle nur eine Frau, die irgendetwas tut. Ob das gut, schlecht oder revolutionär ist, bleibt der Phantasie und dem möglicherweise vorhandenem Wissen des Zuschauers überlassen. Ob wir als Zuschauer die gleich Reaktion haben, wie die Betrachter des Werkes im Film, bleibt pure Spekulation. Die einen finden Bilder von XXXX fantastisch, die anderen gruselig.

Die nächste falsche Entscheidung ist die Konzentration auf eine Phase in Niki de Saint Phalles Leben, die für ihre künstlerische Selbstfindung möglicherweise entscheidend war, aber sie fand Jahre vor ihrem Durchbruch statt. Allein vom Film können wir nicht beurteilen, wie sehr ihre allerersten Arbeiten irgendetwas mit ihren späteren Arbeiten zu tun haben. Wir sehen keinerlei künstlerische Entwicklung. Wir sehen keinen Zusammenhang zwischen ihren frühesten, nicht gezeigten Arbeiten und ihren späteren, ebenfalls nicht gezeigten Arbeiten.

Das ist, als ob man ein Biopic über Angela Merkel inszeniert und sich dabei ausschließlich auf ihre Jahre in der Grundschule konzentriert. Das mag einen interessanten Film ergeben, ist aber nicht das, was uns am Leben von Angela Merkel interessiert.

Und dann wird Niki de Saint Phalles gesamtes künstlerisches Schaffen nur als eine Reaktion auf jahrelange Vergewaltigungen in ihrer Kindheit interpretiert. Das verkleinert ihr Werk und Wirken.

Niki de Saint Phalle“ ist kein Film über die bekannte Künstlerin der Moderne, sondern ein Film über eine junge verheiratete Mutter mit massiven psychischen Problemen, die behauptet seit ihrem elften Lebensjahr von ihrem Vater über Jahre missbraucht worden zu sein und die in einer Therapie eine Beschäftigung findet, in der sie ihre Gefühle verarbeitet. Ihr Hobby ist die Malerei. Es könnte auch irgendetwas anderes sein.

Aber auch dann würde ich unbedingt sehen wollen, wie die Protagonistin ihre Gefühle in ihren Zeichnungen verarbeitet.

Niki de Saint Phalle (Niki, Frankreich/Belgien 2024)

Regie: Céline Sallette

Drehbuch: Céline Sallette, Samuel Doux

mit Charlotte Le Bon, John Robinson, Damien Bonnard, Judith Chemla, Alain Fromager, Virgile Bramly, Grégoire Monsaingeon, Nora Arnezeder, John Fou, Quentin Dolmaire

Länge: 99 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Niki de Saint Phalle“

AlloCiné über „Niki de Saint Phalle“

Rotten Tomatoes über „Niki de Saint Phalle“

Wikipedia über „Niki de Saint Phalle“ (deutsch, englisch, französisch) und Niki de Saint Phalle (deutsch, englisch, französisch)


TV-Tipp für den 19. Oktober: Menschliche Dinge

Oktober 18, 2023

Servus TV, 22.30

Menschliche Dinge (Les choses humaines, Frankreich 2021)

Regie: Yvan Attal

Drehbuch: Yvan Attal, Yaël Langmann

LV: Karine Tuil: Les Choses humaines, 2019 (Menschliche Dinge)

Hat der 22-jährige Alexandre die 16-jährige Mila vergewaltigt? Oder war es doch einvernehmlicher Sex? Der Vorwurf soll vor Gericht geklärt werden.

TV-Premiere. Yvan Attal bemüht sich in seinem Drama, die verschiedenen Perspektiven und Interpretationen objektiv darzustellen. Das wird dann, vor allem während der einen großen Teil des Films einnehmenden Gerichtsverhandlung, etwas didaktisch. Durch seine Inszenierung und die damit verbundene Anordnung der einzelnen Statements und Perspektiven legt er dann doch eine Interpretation des Ereignisses nahe.

Nach dem Abspann kann dann mit Freunden, Bekannten und der Familie heftig darüber diskutiert werden.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Charlotte Gainsbourg, Matthieu Kassovitz, Pierre Arditi, Ben Attal, Suzanne Jouannet, Audrey Dana, Benjamin Lavernhe, Judith Chemla

Hinweise

Moviepilot über „Menschliche Dinge“

AlloCiné über „Menschliche Dinge“

Rotten Tomatoes über „Menschliche Dinge“

Wikipedia über „Menschliche Dinge“

Meine Besprechung von Yvan Attals „Menschliche Dinge“ (Les choses humaines, Frankreich 2021)


Neu im Kino/Filmkritik: „Menschliche Dinge“ – nicht strafbar, ein Missverständnis oder eine Vergewaltigung?

November 3, 2022

Hat er oder hat er nicht? Die sechzehnjährige Mila behauptet, der sechs Jahre ältere Alexandre Farel habe sie vergewaltigt. Er behauptet das Gegenteil. In einem Gerichtsverfahren soll der Vorwurf geklärt werden.

Der erste Verhandlungstag ist über dreißig Monate nach der Tat und der Anzeige. Bevor Yvan Attal in der zweiten Filmhälfte die Gerichtsverhandlung ausführlich dokumentiert, erzählt er zuerst aus seiner, dann aus ihrer Perspektive die Vorgeschichte. Und er lässt sich viel Zeit, die einzelnen Schritte eines Strafverfahrens ausführlich zu zeigen. Daraus entsteht – auch weil Nicht-Franzosen noch weniger über französische Strafverfahren wissen als Franzosen – eine ganz eigene Spannung. Der Fall selbst dient Attal dazu, im Nachgang der #MeToo-Debatte, ausführlich die verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und, vor allem im Gerichtsverfahren, verschiedene Ansichten zum Umgang mit dem Vorwurf einer Vergewaltigung, einer Vergewaltigung oder mehr oder weniger einvernehmlichem Geschlechtsverkehr zu beleuchten. Im Kern konzentriert sich der Film auf die Frage, ob es auch dann eine Vergewaltigung ist, wenn sie sich nicht wehrt, weil sie Angst hat und er eine reale oder vermeintliche Machtposition ausnutzt. Denn Alexandre leugnet den Geschlechtsverkehr nicht. Aber für ihn war es keine Vergewaltigung.

Dabei wirkt das Drama immer wieder etwas didaktisch. Zuerst, weil in der ersten Filmhälfte, die Geschichte zuerst aus seiner, dann aus ihrer Perspektive erzählt wird. Anschließend führt der streng regulierte, ausführlich präsentierte Ablauf des Gerichtsverfahrens dazu, dass nacheinander verschiedene, von Fachleuten vorgetragene Positionen zu Wort kommen und immer wieder, vor allem in den Schlussplädoyers, monologisiert wird.

Attal zeigt, wie Alexandre und Mila den Abend und das Ereignis, das wir nie sehen, unterschiedlich wahrgenommen haben. Für ihn war es vielleicht etwas rauer, aber einvernehmlicher Sex und Teil einer Wette mit seinen Schulfreunden. Für sie war es das nicht; jedenfalls sagt sie das bei der Anzeige. Attal zeigt auch die Reaktionen der Eltern von Mila und Alexandre, die hier in einer sehr spezifischen Konstellation aufeinandertreffen. So hat Alexandres Vater Jean Farel, ein angesehener, bekannter, hochgeehrter und charmanter Fernsehjournalist, regelmäßig Sex mit seinen Angestellten und Praktikantinnen. Bekannte reale Vorbilder sind Dominique Strauss-Kahn und Harvey Weinstein. Alexandre wird uns als etwas rücksichtsvollere Version seines Vaters präsentiert. Auch er gehört zur Bourgeoisie und benimmt sich entsprechend. Im Film ist dann unklar, ob Alexandre sich so verhält, weil er so ist, ob er sein Verhalten von seinem Vater übernommen hat oder ob er sich so verhält, weil er zu einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse gehört.

Alexandres Mutter Claire ist eine Publizistin und glühende Feministin, die am Filmanfang lautstark die Bestrafung von Vergewaltigtern fordert. Aber was wird sie sagen, wenn es um ihren Sohn geht? Inzwischen lebt sie mit Adam Wizman zusammen. An dem verhängnisvollem Abend schickte sie Adams Tochter mit ihrem Sohn weg – zu einer Party mit seinen früheren Schulkameraden, die er lange nicht gesehen hat, weil er in den USA an einer Elite-Universität studiert.

Milas Eltern sind knapper gezeichnet. Ihr Vater ist ein Hochschullehrer, ihre Mutter eine überzeugte orthodoxe Jüdin.

Menschliche Dinge“ wirkt wie eine gut strukturierte Spielanleitung, die möglichst alle Meinungen zum Thema darstellen möchte und dabei auf Emotionalisierungen verzichtet. Entsprechend distanziert verfolgt man das Geschehen.

Nach dem Film, der mit einem Gerichtsurteil endet, kann man dann natürlich prächtig über das Thema und die Angemessenheit des Urteils diskutieren.

Menschliche Dinge (Les choses humaines, Frankreich 2021)

Regie: Yvan Attal

Drehbuch: Yvan Attal, Yaël Langmann

LV: Karine Tuil: Les Choses humaines, 2019 (Menschliche Dinge)

mit Charlotte Gainsbourg, Matthieu Kassovitz, Pierre Arditi, Ben Attal, Suzanne Jouannet, Audrey Dana, Benjamin Lavernhe, Judith Chemla

Länge: 139 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Menschliche Dinge“

AlloCiné über „Menschliche Dinge“

Rotten Tomatoes über „Menschliche Dinge“

Wikipedia über „Menschliche Dinge“