Hat er oder hat er nicht? Die sechzehnjährige Mila behauptet, der sechs Jahre ältere Alexandre Farel habe sie vergewaltigt. Er behauptet das Gegenteil. In einem Gerichtsverfahren soll der Vorwurf geklärt werden.
Der erste Verhandlungstag ist über dreißig Monate nach der Tat und der Anzeige. Bevor Yvan Attal in der zweiten Filmhälfte die Gerichtsverhandlung ausführlich dokumentiert, erzählt er zuerst aus seiner, dann aus ihrer Perspektive die Vorgeschichte. Und er lässt sich viel Zeit, die einzelnen Schritte eines Strafverfahrens ausführlich zu zeigen. Daraus entsteht – auch weil Nicht-Franzosen noch weniger über französische Strafverfahren wissen als Franzosen – eine ganz eigene Spannung. Der Fall selbst dient Attal dazu, im Nachgang der #MeToo-Debatte, ausführlich die verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und, vor allem im Gerichtsverfahren, verschiedene Ansichten zum Umgang mit dem Vorwurf einer Vergewaltigung, einer Vergewaltigung oder mehr oder weniger einvernehmlichem Geschlechtsverkehr zu beleuchten. Im Kern konzentriert sich der Film auf die Frage, ob es auch dann eine Vergewaltigung ist, wenn sie sich nicht wehrt, weil sie Angst hat und er eine reale oder vermeintliche Machtposition ausnutzt. Denn Alexandre leugnet den Geschlechtsverkehr nicht. Aber für ihn war es keine Vergewaltigung.
Dabei wirkt das Drama immer wieder etwas didaktisch. Zuerst, weil in der ersten Filmhälfte, die Geschichte zuerst aus seiner, dann aus ihrer Perspektive erzählt wird. Anschließend führt der streng regulierte, ausführlich präsentierte Ablauf des Gerichtsverfahrens dazu, dass nacheinander verschiedene, von Fachleuten vorgetragene Positionen zu Wort kommen und immer wieder, vor allem in den Schlussplädoyers, monologisiert wird.
Attal zeigt, wie Alexandre und Mila den Abend und das Ereignis, das wir nie sehen, unterschiedlich wahrgenommen haben. Für ihn war es vielleicht etwas rauer, aber einvernehmlicher Sex und Teil einer Wette mit seinen Schulfreunden. Für sie war es das nicht; jedenfalls sagt sie das bei der Anzeige. Attal zeigt auch die Reaktionen der Eltern von Mila und Alexandre, die hier in einer sehr spezifischen Konstellation aufeinandertreffen. So hat Alexandres Vater Jean Farel, ein angesehener, bekannter, hochgeehrter und charmanter Fernsehjournalist, regelmäßig Sex mit seinen Angestellten und Praktikantinnen. Bekannte reale Vorbilder sind Dominique Strauss-Kahn und Harvey Weinstein. Alexandre wird uns als etwas rücksichtsvollere Version seines Vaters präsentiert. Auch er gehört zur Bourgeoisie und benimmt sich entsprechend. Im Film ist dann unklar, ob Alexandre sich so verhält, weil er so ist, ob er sein Verhalten von seinem Vater übernommen hat oder ob er sich so verhält, weil er zu einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse gehört.
Alexandres Mutter Claire ist eine Publizistin und glühende Feministin, die am Filmanfang lautstark die Bestrafung von Vergewaltigtern fordert. Aber was wird sie sagen, wenn es um ihren Sohn geht? Inzwischen lebt sie mit Adam Wizman zusammen. An dem verhängnisvollem Abend schickte sie Adams Tochter mit ihrem Sohn weg – zu einer Party mit seinen früheren Schulkameraden, die er lange nicht gesehen hat, weil er in den USA an einer Elite-Universität studiert.
Milas Eltern sind knapper gezeichnet. Ihr Vater ist ein Hochschullehrer, ihre Mutter eine überzeugte orthodoxe Jüdin.
„Menschliche Dinge“ wirkt wie eine gut strukturierte Spielanleitung, die möglichst alle Meinungen zum Thema darstellen möchte und dabei auf Emotionalisierungen verzichtet. Entsprechend distanziert verfolgt man das Geschehen.
Nach dem Film, der mit einem Gerichtsurteil endet, kann man dann natürlich prächtig über das Thema und die Angemessenheit des Urteils diskutieren.
Menschliche Dinge (Les choses humaines, Frankreich 2021)
Regie: Yvan Attal
Drehbuch: Yvan Attal, Yaël Langmann
LV: Karine Tuil: Les Choses humaines, 2019 (Menschliche Dinge)
mit Charlotte Gainsbourg, Matthieu Kassovitz, Pierre Arditi, Ben Attal, Suzanne Jouannet, Audrey Dana, Benjamin Lavernhe, Judith Chemla
Länge: 139 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Moviepilot über „Menschliche Dinge“
AlloCiné über „Menschliche Dinge“