
Vor sechzig Jahren, während in Frankfurt am Main der Auschwitzprozess für volle Gerichtssäle in der Stadt und Diskussionen in der ganzen deutschen Gesellschaft sorgten, fand im Hunsrück auf der Burg Waldeck ein Musikfestival statt, das der Beginn der langlebigen Karrieren von, unter anderem, Franz Josef Degenhardt, Reinhard Mey, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader und Hanns Dieter Hüsch war.
In Jürgen Heimbachs neuestem Thriller „Waldeck“ ist das Festival der Ort, an dem am Ende des Romans die bis dahin parallel geführten Handlungsstränge zu einem furiosen Finale zusammengeführt werden und die wichtigen Figuren zum ersten Mal alle aufeinandertreffen.
Bis dahin springt Heimbach souverän zwischen den verschiedenen Plots, verknüpft geschickt die große Politik mit alltäglichen Sorgen. Er entwirft ein dichtes Porträt der damaligen Zeit und der beginnenden Umwälzungen. Die jungen Menschen wollen ein anderes Leben als ihre Eltern leben. Diese waren teilweise tief in die damals noch keine zwanzig Jahre zurückliegende Nazi-Diktatur verstrickt, leugneten standhaft ihre Mittäterschaft und versuchten, teilweise mit kriminellen Mitteln, diese zu verschleiern.
Der 35-jährige Journalist Ferdinand Broich ist einer, der etwas gegen diesen falschen Frieden tun will. Als ihm die Holocaust-Überlebende Ruth Lachmann sagt, sie habe in München einen Zahnarzt aus dem Konzentrationslager Lublin-Majdanek gesehen, der dort unter einem falschen Namen ein geachteter und vermögender Zahnarzt ist, macht Broich sich auf den Weg nach München. Er will mit seiner Informantin reden, sich überzeugen, ob der Zahnarzt Ulrich Fischer der KZ-Zahnarzt Gernot Tromnau ist und eine Reportage darüber schreiben.
Noch ehe er mit seinen Recherchen beginnen kann, erfährt er, dass die Frau, die ihm den Tipp gegeben hat, tot ist. Es soll sich um einen natürlichen Tod handeln. Immerhin war sie schon älter. Aber Broich ist misstrauisch.
Fischers Tochter Silvia soll Hajo Bremer heiraten. Der Jurist hat vermögende Eltern und legt in wenigen Tagen sein zweites Staatsexamen ab. Ihr Vater hält ihn für den perfekten Ehemann. Aber sie hat andere Pläne und sie hofft auf ihren bald anstehenden 21. Geburtstag und die damit verbundene Volljährigkeit. Als Silvia und Hajo in ihrem Elternhaus in einen Streit geraten, stößt sie ihn von sich weg. Er stolpert unglücklich und ist tot. Anstatt jetzt ihren Vater oder die Polizei anzurufen, flüchtet sie. Mit einer Aktentasche ihres Vaters, in der wichtige Dokumente über seine Vergangenheit sind. Sie will sich bei dem Waldeck-Festival mit Martin, der hoffentlich nicht nur ein Urlaubsflirt war, treffen und anschließend in Düsseldorf an der Kunstakademie studieren.
Auf ihrem Weg zum Musikfestival wird sie von Edgar Winter verfolgt. Er war bei der SS und, nach dem Krieg, Mitglied der Organisation Gehlen und, bis zu seiner Pensionierung, des BND. Für Fischer und eine kleine Gruppe von Nazi-Verbrechern, die nichts mehr von ihren damaligen Taten wissen wollen, ist er der skrupellose Problemlöser.
Im Hunsrück hadert die neunzehnjährige Wilhelmine ‚Mine‘ Karges mit ihrem Schicksal. Sie ist eine gute Turnerin und soll demnächst bei beim Kreisturnfest für ihr Dorf siegenn. Außerdem ist, auch ohne dass es explizit gesagt wird, ihre Heirat mit einem Jungen aus dem Dorf schon beschlossen. Dummerweise ist sie schwanger und nur sie kennt den Vater. Als sie von dem Festival erfährt, will auch sie das Festival besuchen. Dort hofft sie, den Vater ihres Kindes zu treffen.
Zwischen diesen Figuren springt Heimbach in knappen, die Geschichte konsequent vorantreibenden Szenen hin und her. Gleichzeitig taucht er tief in die damalige, uns heute sehr fern erscheinende Zeit ein. Er entwirft ein Panorama von einem Deutschland, das sich aus dem Muff der fünfziger Jahre befreit und auf ‚1968‘ vorbereitet.
Eine spannende Geschichtsstunde.

Jürgen Heimbach: Waldeck
Unionsverlag, 2024
352 Seiten
19 Euro
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Bonushinweis

Ferdinand Broich trat bereits in einer kleinen, aber wichtigen Nebenrolle in dem 2020 mit dem Glauser als bester Kriminalroman ausgezeichnetem Krimi „Die Rote Hand“ auf. In dem Thriller wird 1959 in Frankfurt am Main ein Waffenhändler ermordet. Er lieferte Waffen an die algerische Befreiungsfront FNL, die damals gegen die Kolonialmacht Frankreich kämpfte.
Hauptperson des ebenfalls lesenswerten, ebenfalls nah an historischen Fakten entlang geschriebenen Noir-Thrillers ist der ehemalige Fremdenlegionär Arnold Streich. Er lebt inzwischen ein unauffälliges Leben als schlecht bezahlter, alleinstehender Wachmann. Als er von der „Roten Hand“ erpresst wird, der Waffenhändler in einer von ihm bewachten Garage ermordet wird und ein kleines Mädchen, das eine wichtige Zeugin ist, ebenfalls ermordet werden soll, ist das ruhige Leben für ihn vorbei.
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Jürgen Heimbach: Die Rote Hand
Unionsverlag, 2020
288 Seiten
13,95 Euro
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Erstausgabe
weissbooks.w, 2019
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Hinweise
Homepage von Jürgen Heimbach
Unionsverlag über Jürgen Heimbach
Wikipedia über Jürgen Heimbach
Culturmag: Alf Mayer unterhält sich mit Jürgen Heimbach über „Waldeck“
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