Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: Über Ari Folmans „Das Tagebuch der Anne Frank“ und „Wo ist Anne Frank“

Februar 23, 2023

Die Geschichte von Anne Frank, ihrem Leben und Tod, dürfte allgemein bekannt sein. Nur Kitty, die beste Freundin von Anne Frank, kennt sie nicht vollständig. Denn Kitty ist eine Fantasiefigur. Erfunden wurde sie von Anne, weil sie ihre Tagebucheinträge nicht an sich selbst, sondern an eine andere Person richten wollte.

Als in Amsterdam im Anne-Frank-Haus „Heute in einem Jahr…“ ein Blitz einschlägt, erwacht Kitty zum Leben. Sie kennt das Haus, aber jetzt sind in ihm nicht mehr Anne, ihre Familie, die Familie van Daan und der später hinzugekommene Albert Dussel, sondern viele fremde Menschen. Kitty will ihre beste und einzige Freundin finden.

Dafür verlässt sie das Haus und stellt dabei fest, dass sie im Haus unsichtbar ist. Vor dem Haus ist sie, wenn sie das originale Tagebuch von Anne Frank dabei hat, sichtbar und sie kann sich mit Menschen unterhalten. Also nimmt sie es mit. Dummerweise wird die rothaarige Kitty jetzt als die Diebin des wertvollen Tagebuchs gesucht.

Das ist der zugegeben fantastische Auftakt von Ari Folmans Animationsfilm „Wo ist Anne Frank“ (ohne Fragezeichen). Folman ist vor allem bekannt für „Waltz with Bashir“. Vor inzwischen zehn Jahren wurd er vom Anne Frank Fonds gefragt, ob er einen Film über Anne Frank machen möchte. Daraus entstand dann zunächst, zusammen mit seinem „Waltz with Bashir“-Partner David Polonsky, eine Graphic Novel des Tagebuchs. Dieser Comic bleibt sehr nah am Text des Tagebuchs. Sie übernahmen sogar längere Tagebucheinträge direkt.

In „Wo ist Anne Frank“ versucht Folman einem heutigen, jüngerem Publikum die Geschichte von Anne Frank nahe zu bringen. Gleichzeitig will er erzählen, was nach Anne Franks letztem Eintrag in ihr Tagebuch geschah. Das gelingt ihm, indem er Kitty zur Protagonistin macht.

Während Kitty versucht herauszufinden, was mit Anne nach ihrem letzen Tagebucheintrag geschah, fügt Folman animierte Ausschnitte aus Anne Franks Tagebuch in den Film ein, Kitty sieht überall in Amsterdam die Spuren von Anne Frank (Letztendlich wurde jedes zweite Gebäude nach ihr benannt) und sie verliebt sich in den jugendlichen Taschendieb Peter. Über ihn lernt sie aus nordafrikanischen Ländern geflüchtete Menschen, wie das Mädchen Awa, kennen. Sie leben in Amsterdam teilweise ohne Papiere in einer geheimen Unterkunft. Folman verbindet hier zunächst unaufdringlich und rein assoziativ das Schicksal von Anne Frank mit dem Schicksal von heute aus ihren Heimatländern Geflüchteten.

Wo ist Anne Frank“ ist ein überaus ambitioniertes Werk, das sich etwas unglücklich zwischen Kinder- und Erwachsenenfilm setzt. Für die einen zu anspruchsvoll, für die anderen, wenigstens in Teilen, zu naiv. Wobei die Macher ihn für Kinder ab 12 Jahren und auch die Bildungsarbeit empfehlen. Denn der Anne Frank Fonds, der diesen Film initiierte, ist eine von Anne Franks Vater Otto Frank gegründete Stiftung, die sich in zahlreichen Projekten für einen würdigen Umgang mit Anne Franks Werk, dem Gedenken an den Holocaust und der Verwirklichung von Kinderrechten einsetzt. Zwölfjährige dürften mit der komplexen Struktur des Films zurechtkommen. Jüngere eher nicht. Erwachsene dürften sich eher über das überaus naive Finale des Films an der Flüchtlingsunterkunft ärgern, das sogar die Geduld des gutmütigsten Zuschauers strapaziert. Und Kitty muss sich bei ihrer Suche nach Anne manchmal wirklich dumm verhalten.

Doch das ist jammern auf hohem Niveau. Denn, wie die Pixar-Filme, spricht Folman in „Wo ist Anne Frank“ schwierige Themen an, behandelt sie vielschichtig und wird nur selten zu didaktisch. Deshalb ändert meine Kritik nichts daran, dass dieser Animationsfilm viel, viel besser ist als andere Animationsfilme, die sich ausschließlich an Kinder unter zehn Jahren richten.

Parallel zum Film erschien im S. Fischer Verlag die Graphic Novel „Wo ist Anne Frank“. Dabei handelt es sich um die gelungene gezeichnete Version des Films.

Wo ist Anne Frank (Where is Anne Frank, Belgien/Frankreich/Niederlande/Luxemburg/Israel/Deutschland/USA 2021 )

Regie: Ari Folman

Drehbuch: Ari Folman

mit (in der deutschen Fassung den Stimmen von) Sarah Tkotsch, Anni C. Salander, Jaron Müller, Oliver Szerkus, Bernhard Völger, Jessica Walther-Gabory, Laura Oettel, Iris Berben

Länge: 104 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Lesenswerter Lesestoff zum Film

Während Ari Folman an „Wo ist Anne Frank“ arbeitete, schrieb er eine gelungene Comic-Version des Tagebuchs von Anne Frank. Sie verkaufte sich gut und half so auch bei der schwierigen Finanzierung von „Wo ist Anne Frank“. Der Spielfilm wurde ebenfalls zu einem Comic verarbeitet. Der Comic unterscheidet sich kaum vom Film.

Ari Folman/Lena Guberman: Wo ist Anne Frank – Eine Graphic Novel

(übersetzt von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel)

S. Fischer, 2022

160 Seiten

22 Euro

Ari Folman/David Polonsky: Das Tagebuch der Anne Frank

(übersetzt von Mirjam Pressler, Ulrike Wasel und Klaus Timmermann)

S. Fischer, 2017

160 Seiten

20 Euro

Außerdem gibt es natürlich immer noch den Originaltext

Wer nach (oder vor) dem Film so richtig in die Schriften von Anne Frank einsteigen möchte, sollte sich die Gesamtausgabe, die auch ganz banal „Gesamtausgabe“ heißt, zulegen. In ihr sind die verschiedenen Versionen ihres Tagebuchs (es gibt das ursprüngliche Tagebuch, eine von ihr für eine Veröffentlichung schon überarbeitete Fassung, die von ihrem Vater Otto Frank für die Veröffentlichung erstellte Fassung und die von Mirjam Pressler 2001 im Auftrag des Anne Frank Fonds erstellte und autorisierte „Version d“, die die heute verbindliche Fassung ist und in der für frühere Veröffentlichungen gekürzte und weggelassene Teile wieder aufgenommen wurden), die „Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus“ (ihre Erzählungen, die teils auf selbst Erlebtem basieren und die auch teils von ihr in ihr Tagebuch übernommen wurden), weitere Erzählungen, Briefe, Einträge in Poesiealben, „Das Schöne-Sätze-Buch“ (das hauptsächlich eine Sammlung von Texten, die ihr gefielen und die sie im Versteck abschrieb, ist) und ‚Das Ägyptenbuch‘ (das ebenfalls vor allem aus anderen Texten besteht und das Anne Franks Faszination für das alte Ägypten dokumentiert) abgedruckt. Damit ist ihr schriftstellerisches Gesamtwerk in diesem Buch enthalten.

Ergänzt wird der Sammelband durch Fotos und Dokumente über sie und ihre Familie und vier Aufsätze über Anne Frank, ihre Familie, den zeitgeschichtlichen Kontext und die Rezeptionsgeschichte.

Diese umfassende Ausgabe eignet sich vor allem für das vertiefte und auch vergleichende Studium.

Für den Hausgebrauch reicht natürlich die Ausgabe ihres Tagebuchs.


Anne Frank: Gesamtausgabe

(herausgegeben vom Anne Frank Fonds)

(übersetzt von Mirjam Pressler)

Fischer, 2015

816 Seiten

12,99 Euro


Deutsche Erstausgabe

Fischer, 2013

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Wo ist Anne Frank“

Moviepilot über „Wo ist Anne Frank“

Metacritic über „Wo ist Anne Frank“

Rotten Tomatoes über „Wo ist Anne Frank“

Wikipedia über „Wo ist Anne Frank“ (deutsch, englisch) und Anne Frank (deutsch, englisch)

Der Anne Frank Fonds

Meine Besprechung von Hans Steinbichlers „Das Tagebuch der Anne Frank“ (Deutschland 2016)

Meine Besprechung von Ari Folmans „The Congress“ (The Congress, Deutschland/Irland/Polen/Frankreich/Belgien/Luxemburg 2013)


Neu im Kino/Filmkritik: „Belle“ und das Biest im Cyberspace

Juni 11, 2022

‚Die Schöne und das Biest‘ für die Generation TikTok“ lautet der Werbespruch für „Belle“. Das klingt jetzt zuerst einmal abschreckend. Allerdings ist „Belle“ ein Animationsfilm, der vom japanischen Animationsstudio Chizu produziert wurde, das einen ausgezeichneten Ruf hat. Sozusagen, im Werbesprech, das japanische Pixar.

Die von „Belle“-Regisseur Mamoru Hosoda („Miral – Das Mädchen aus der Zukunft“, „Das Mädchen, das durch die Zeit sprang“) erfundene Geschichte interpretiert die bekannte Geschichte von der Schönen und dem Biest neu.

Die Schöne ist die schüchterne siebzehnjährige Suzu. Sie lebt zurückgezogen mit ihrem Vater in einem kleinen Dorf. Seit dem Tod ihrer Mutter vermeidet sie, so gut es geht, jeden Kontakt zu anderen Menschen. Und sie kann nicht mehr singen.

Als sie sich auf „U“ anmeldet, ändert sich ihr Leben. „U“ ist eine virtuelle Welt mit fünf Milliarden Nutzern (bei aktuell acht Millliarden Menschen weltweit ist das eine beachtliche Nutzerzahl). Die Avatare werden in dieser Welt nicht von den Benutzern ausgewählt, sondern aufgrund der biometrischen Daten und der wahren Persönlichkeit der Anmeldenden errechnet. In U wird das Mauerblümchen zu Belle. Als sie beginnt zu singen, begeistert sie sofort die anderen User. In U wird sie immer bekannter. Alle lieben sie.

Da taucht das Biest auf. Es ist ein böser Avatar, der alles zerstört und für Chaos sorgt. Trotzdem sieht Suzu in ihm eine ähnlich verletzte Seele. Sie will ihm helfen. In U und, mit ihren Freunden, in der realen Welt.

Diese beiden Welten sind in „Belle“ auch optisch getrennt. Die reale Welt besteht aus handgemalten japanischen Landschaften. Die virtuelle Welt ist computeranimiert. Sie ist kälter, technischer und hat andere Farben. Diese Welt erinnert an virtuelle Welten, wie wir sie aus Cyberpunkt-Filmen, wie den „Matrix“-Filmen, und Science-Fiction-Animes, wie „Ghost in the Shell“ kennen. Wobei Hosoda die positiven Möglichkeiten des Cyberspace betont. Daher sind seine Bilder von U sehr bunt und freundlich.Das Erzähltempo und die Schnittgeschwindigkeit sind, im Gegensatz zu dem TikTok-Werbespruch, gemächlich und mit zwei Stunden ist der Film ziemlich lang geraten.

Die Story selbst folgt gelungen den Konventionen eines Liebesfilms und Popmärchens, ohne dies bis zum letzten Detail zu kopieren. Das wird besonders deutlich am Filmende, wenn es darum geht, die Identität vom Biest zu enthüllen.

Vor allem pubertierende Mädchen dürften begeistert sein.

Belle (Ryū to Sobakasu no Hime, Japan 2021)

Regie: Mamoru Hosoda

Drehbuch: Mamoru Hosoda

mit (im Original den Stimmen von) Kaho Nakamura, Ryō Narita, Shōta Sometani, Tina Tamashiro, Lilas Ikuta, Ryōko Moriyama

mit (in der deutschen Fassung den Stimmen von) Lara „Loft“ Trautmann, nico Sablik, Tim Schwarzmaier, Laura Oettel, Lea Kalbhenn, Patrick Baehr, Julia Biedermann

Länge: 121 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Japanische Homepage zum Film

Moviepilot über „Belle“

Metacritic über „Belle“

Rotten Tomatoes über „Belle“

Wikipedia über „Belle“