Neu im Kino/Filmkritik: Über Lynne Ramsays „Die my love“

November 13, 2025

Wer jung und naiv und mit der freudigen Erwartung, die Stars Jennifer Lawrence und Robert Pattinson als Liebespaar beim Geschlechtsverkehr zu sehen, ins Kino geht, wird wahrscheinlich schreiend den Saal verlassen. Sicher: Lawrence und Pattinson spielen ein junges Paar, das aus der Großstadt in ein etwas abgelegen liegendes, heruntergekommenes Haus zieht. Sie renovieren das Haus. Sie haben Sex und bekommen ein Baby. Nach der Geburt verändert sich ihre Beziehung weiter.

Allerdings ist „Die my love“ keine heimelige RomCom mit glücklichen Menschen in einer perfekten Welt, sondern ein Film von Lynne Ramsay. Zu den vorherigen Filmen der in Glasgow geborenen, nicht besonders produktiven Regisseurin gehören „Rat Catcher“ (1999), „Morvern Callar“ (2002), „We need to talk about Kevin“ (2011; ihr bekanntestes und zugänglichstes Werk) und „A beautiful day“ (2017; der Titel kann nur und muss strikt ironisch verstanden werden). Keiner dieser wenig erklärenden, viel zeigenden und sich auf die Intelligenz des Publikums verlassenden Feelbad-Filme war ein Kassenhit. Jeder Film kam bei der Kritik gut an. Zuletzt spielten Stars wie Tilda Swinton, John C. Reilly und Joaquin Phoenix in ihren Filmen mit. Dieses Mal übernahmen Lawrence und Pattison die Hauptrollen. Die Stars aus „Die Tribute von Panem – The Hunger Games“ und Harry Potter bewiesen in den Jahren seit ihrem Durchbruch eine große Sympathie für abseitige Stoffe. „Die my love“ reiht sich hier nahtlos ein. Sissy Spacek und Nick Nolte übernahmen Nebenrollen.

Nach einem fröhlichen Einzug verändert die nicht schreibende Schriftstellerin Grace (Jennifer Lawrence) sich während der Schwangerschaft und nach der Geburt zunehmend. Sie ist offensichtlich von der Situation überfordert und kann immer weniger Wahn und Wirklichkeit unterscheiden. Sie flieht zunehmend in so etwas wie eine postnatale Depression. Auch ihr immer öfter, teils mehrere Tage abwesender Lebensgefährte Jackson (Robert Pattinson) verändert sich.

Dieser eskalierende Wahnsinn in dem Frau, zuerst schwanger, später Mutter, sich immer fremder in ihrem Haus fühlt und der Abstand zu ihrem sich seltsam verhaltenden Mann immer größer wird, erinnert an Darren Aaronofskys surreales Drama „Mother!“ (2017), ebenfalls mit Jennifer Lawrence in der Hauptrolle. „Die my love“ kann als ungehemmte, assoziativ und in Andeutungen erzählte Variante des Alptraums einer jungen Mutter nach der Geburt ihres Kindes gesehen werden. Aber, wie Aaronofsky, lässt Ramsay verschiedene Interpretationen zu.

Für die Fans von Lynne Ramsay ist „Die my love“, nachdem ihr vorheriger Film, der brutale Noir „A beautiful day“ enttäuschte, definitiv einen Blick wert.

Die my love (Die my love, Großbritannien/USA 2025)

Regie: Lynne Ramsay

Drehbuch: Lynne Ramsay, Alice Birch, Enda Walsh

LV: Ariana Harwicz: Mátate, amor, 2012 (Stirb doch, Liebling)

mit Jennifer Lawrence, Robert Pattinson, Lakeith Stanfield, Sissy Spacek, Nick Nolte, Sarah Lind, Gabrielle Rose

Länge: 119 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Moviepilot über „Die my love“

Metacritic über „Die my love“

Rotten Tomatoes über „Die my love“

Wikipedia über „Die my love“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Lynne Ramsays „A beautiful Day“ (You were never really here, Großbritannien 2017)


TV-Tipp für den 10. Februar: A beautiful Day

Februar 9, 2025

Arte, 22.00

A beautiful Day (You were never really here, Großbritannien 2017)

Regie Lynne Ramsay

Drehbuch: Lynne Ramsay

LV: Jonathan Ames: You were never really here, 2013

Brachial-Problemlöser Joe (Joaquin Phoenix) soll in New York die minderjährige Tochter eines US-Senators aus einem Bordell befreien.

TV-Premiere. Lynne Ramsay erzählt ihre sattsam bekannte, arg minimalistische Geschichte als einen assoziativen Albtraum in dem die Erklärungen nur aus den bekannten Genretopoi bestehen, die in Halbsätzen und Bildfetzen als Interpretationshilfen angeboten werden. Ob sie wirklich zusammenpassen ist egal. Das Ergebnis ist ein extrem düsterer, pessimistischer, todernst erzählter, brutaler Noir, der von der Kritik abgefeiert wurde und in Cannes zwei Preise (Drehbuch, Schauspiel) erhielt.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung (mit der Cannes-Pressekonferenz und Interviews mit Lynne Ramsay und Jonathan Ames).

mit Joaquin Phoenix, Ekaterina Samsonov, Judith Roberts, John Doman, Alex Manette, Alesssandro Nivola, Frank Pando, Vinicius Damasceno

Wiederholung: Donnerstag, 13. Februar, 00.15 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

Moviepilot über „A beautiful Day“

Metacritic über „A beautiful Day“

Rotten Tomatoes über „A beautiful Day“

Wikipedia über „A beautiful Day“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Lynne Ramsays „A beautiful Day“ (You were never really here, Großbritannien 2017)


Neu im Kino/Filmkritik: „A beautiful Day“. Nicht wirklich

April 26, 2018

Joe (Joaquin Phoenix) ist ein Problemlöser. Sein Arbeitsgebiet ist das Befreien entführter Kinder. Ohne zeitraubende Verhandlungen und ohne das Bezahlen von Lösegeld löst er das Problem. Seine Vorgehensweise ist brachial. Am liebsten erschlägt er mit einem handelsüblichen Hammer seine Gegner und beseitigt danach die Spuren (Kleiner Tipp für Möchtegern-Nachahmer: bei anderen Waffen werden für die CSI-Jungs weniger Spuren hinterlassen).

Sein neuester Auftrag unterscheidet sich zunächst nicht von seinen vorherigen Aufträgen: er soll die halbwüchsige Tochter eines New Yorkers Senators aus einem Bordell, in dem sie festgehalten wird, befreien. Weil gerade Wahlkampf ist, möchte der Politiker Schlagzeilen über seine Tochter vermeiden. Joe soll sie ohne großen Presserummel aus dem Bordell befreien.

Als „A beautiful Day“ letztes Jahr beim Filmfestival in Cannes seine Weltpremiere hatte, erhielt Regisseurin Lynne Ramsay („We need to talk about Kevin“) den Preis für das beste Drehbuch und Joaquin Phoenix wurde als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet.

Auch von der Kritik wird der extrem düstere Thriller abgefeiert.

Für mich ist der Noir ein einziger großer Langweiler; – was auch eine ziemlich perfekte Spiegelung des seelischen Zustandes von Joe ist. Ramsay ist so nah bei Joe, dass wir ihn öfter nicht beobachten, sondern in seinem Kopf sind. Wir sind förmlich gefangen in seiner Welt. Es ist eine brutale Welt. Es ist eine emotionslose Welt, in der sogar unklar ist, ob es überhaupt jemals Emotionen gab, die wieder erweckt werden können. Joe schleppt sich, wie ein Boxer nach einem Kampf, nur noch durch sein Leben. Er ist von früheren Erfahrungen traumatisiert. Sie tauchen als Flashbacks immer wieder auf. Seitdem ist für ihn das Befreien der Kinder aus den Händen von Pädophilen eine Mission. Er lebt immer noch in seinem heruntergekommenen Geburtshaus. Dort lebt er seine Mutter zusammen, die inzwischen all die Gebrechen eines alten Menschen hat und zunehmend pflegebedürftig wird. Er kümmert sich liebevoll um sie. Er ist ein großer Schweiger, der paranoid viel Wert auf seine Anonymität legt – und dann doch, ohne zu Zögern, einen Auftrag in seiner Heimatstadt New York übernimmt. Neben seiner Mutter hat er nur zu seinem Mittelsmann, der ihm seine Aufträge verschafft, eine dauerhafte Beziehung.

Joe ist eine mythische Figur. Ein Racheengel, den es so nur im Film und der Literatur gibt. „A beautiful Day“ ist die Verfilmung von Jonathan Ames‘ hundertseitiger Novelle „You were never really here“.

Schon die Ausgangslage der Geschichte stammt aus einer dystopischen Parallelwelt. Denn warum sollten Bordellbetreiber ausgerechnet Kinder wohlhabender Familien entführen und als Prostituierte gefangen halten? Und warum sollten die anscheinend ehrenwerten und absolut bürgerlichen Eltern der entführten Kinder ausgerechnet Verbrecher um Hilfe bitten? Die Welt in „A beautiful Day“ ist eine „John Wick“-Welt, die in diesen Thrillern mit einer ordentlichen Portion Action und Humor präsentiert wird.

Dagegen ist „A beautiful Day“ konsequent düster, pessimistisch und todernst. Ramsay erzählt ihre sattsam bekannte, arg minimalistische Geschichte als einen assoziativen Albtraum in dem die Erklärungen nur aus den bekannten Genretopoi bestehen, die in Halbsätzen und Bildfetzen als Interpretationshilfen angeboten werden. Ob sie wirklich zusammenpassen ist egal.

In diesem Kontext ist Joes ausführlich geschilderte Beziehung zu seiner Mutter und Ramsays konsequente Vermeidung von Actionszenen ungewöhnlich. Sie verweigert in ihrem Film die Katharsis, die Gewalt in solch düsteren Geschichten ja haben kann. Bei Ramsay bleibt nur die bleierne Leere, die Joes Leben in seiner selbst gewählten Isolation seit Ewigkeiten bestimmt.

A beautiful Day (You were never really here, Großbritannien 2017)

Regie Lynne Ramsay

Drehbuch: Lynne Ramsay

LV: Jonathan Ames: You were never really here, 2013

mit Joaquin Phoenix, Ekaterina Samsonov, Judith Roberts, John Doman, Alex Manette, Alesssandro Nivola, Frank Pando, Vinicius Damasceno

Länge: 90 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „A beautiful Day“

Metacritic über „A beautiful Day“

Rotten Tomatoes über „A beautiful Day“

Wikipedia über „A beautiful Day“ (deutsch, englisch)

Die Cannes-Pressekonferenz

David Fear (Rolling Stone) unterhält sich mit Lynne Ramsay über den Film

DP/30 unterhält sich mit Jonathan Ames