Neu im Kino/Filmkritik: Der Berlinale-Gewinner „Auf der Adamant“

September 14, 2023

Die Adamant ist ein Schiff. Es liegt in Paris in der Nähe des Bahnhof Gare de Lyon am rechten Seine-Ufer am Quai de la Rapée und bewegt sich nicht. Denn die Adamant ist seit 2010 eine Tagesklinik für Menschen mit psychischen Störungen. Sie verbringen dort ihre Tage mit verschiedenen Aktivitäten. Sie werden in ihrem Alltag unterstützt. Ihr Leben erhält eine Struktur und sie sollen wieder am normalen Leben teilnehmen können. Bis dahin ist die Adamant für sie ein geschützer, Sicherheit bietender Raum.

Nicolas Philibert beobachtet sie in seinem neuen Film „Auf der Adamant“. Die Dreharbeiten fanden, bis auf wenige Tage Anfang 2022, in mehreren Etappen von Mai bis November 2021 statt. Seine Premiere hatte der Dokumentarfilm im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale. Er wurde von der Jury mit dem Hauptpreis, dem Goldenen Bären, ausgezeichnet.

Die Kritiker erklärten sich diese Entscheidung mit der Qualität der anderen Wettbewerbsfilme. Trotzdem war es eine schon damals umstrittene Entscheidung. Denn, kurz gesagt, ist ein Dokumentarfilm kein Spielfilm. Und dann ist „Auf der Adamant“ eine beobachtende Dokumentation. Es wird also auf einen Sprecher verzichtet. Es gibt keine Experten die Hintergrundinformationen über das Projekt vermitteln. Es gibt in diesem Film auch keine Gespräche mit dem großen Betreuungsteam der Adamant. Sie hätten etwas über ihre Arbeit als Therapeut oder Pfleger und ihren Umgang mit den Patienten erzählen können. Diese Perspektive interessiert Philibert nicht. Er konzentriert sich ausschließlich auf die Patienten und was sie ihm während seiner Besuche auf der Adamant über sich erzählen. Aber viel erfahren wir nicht über sie.

Auf der Adamant“ zeigt über gut zwei Stunden nur einige Menschen, die an einem bestimmten Ort etwas tun und die dabei von der Kamera beobachtet werden. Dieses stumme Beobachten kann zu Erkenntnissen führen. Aber alle Erkenntnisse beschränken sich auf das, was sichtbar ist und worüber die Beobachteten sprechen. Oder, anders gesagt, es ist, als ob man ein Spiel beobachtet und versucht die Regeln des Spiels allein durch Zuschauen zu begreifen. Das funktioniert schon bei Fussball nicht.

Hier beschränkt sich die Erkenntnis darauf, dass die „Verrückten“ gar nicht so verrückt sind. Das liegt teils an den Medikamenten, die sie nehmen. Teils liegt es am Umfeld. Denn die Adamant ist, wie gesagt, ein geschützter Raum. Das liegt auch daran, dass auf der Adamant alle normale Alltagskleidung tragen und damit auf den ersten Blick unklar ist, wer hier zum Personal und wer zur Kundschaft gehört.

Für seinen Film hat Philibert seine über mehrere Monate gemachten Beobachtungen dann so kondensiert, dass der Eindruck entsteht, dass hier eine Woche auf der Adamant geschildert wird. Eine Dramaturgie ist nicht erkennbar. Es reihen sich einfach nur Bilder und folgenlose Begegnungen und Gespräche mit dem Regisseur aneinander. Es wird getanzt, gelacht, gesungen und gegessen. Ein Filmclub präsentiert filmgeschichtlich wichtige Filme, wie Federico Fellinis „Achteinhalb“. Konflikte scheint es nicht zu geben. Dabei ist Philiberts Blick immer vorurteilsfrei und von Sympathie und Interesse getragen. Er be- und verurteilt sie nicht. Aber er fragt auch nicht nach.

Das hat, wie ich aus Gesprächen über den Film erfuhr, einigen schon gereicht. Die meisten Kritiken sind euphorisch. Für mich – ich verbrachte meinen Zivildienst in einer Tagesstätte für Schwerstmehrfachbehinderte – war das zu wenig.

Ich hätte gerne mehr über das Konzept der Einrichtung (die auf den ersten Blick hiesigen Tagesstätten ähnelt), die Finanzierung und wie viele es davon in Frankreich gibt erfahren. Also ob die Adamant als Einrichtung einzigartig ist (der Ort ist sekundär) oder ob in dem Film einfach nur ein inzwischen normales Konzept an einem besonderem Ort gezeigt wird. Mich hätte auch interessiert, wie die Tagesklinik in das Stadtviertel eingebunden ist.

Das wäre, zugegeben, ein anderer Film. Es wäre auch ein infomativerer Film. So hat mich „Auf der Adamant“, in dem ohne jeden Kontext einige psychisch erkrankte Menschen an einem Wohlfühlort gezeigt werden, schnell zu Tode gelangweilt.

Und jetzt etwas copy&paste aus dem Presseheft. Dort steht über die Adamant:

Sie ist ein „Tageszentrum“ und gehört zum Zentralen Psychiatrischen Verbund der Paris-Gruppe, zu der auch zwei CMPs (Centres Médicaux Psychologiques – Psychologische Medizinische Zentren), ein mobiles Team und zwei Abteilungen des psychiatrischen Krankenhauses Esquirol, das wiederum dem Krankenhauskomplex Saint-Maurice angegliedert ist, angehören.

Es handelt sich also nicht um einen isolierten Ort, denn die miteinander verknüpften Einheiten, aus denen die Gruppe besteht, bilden ein Netzwerk, in dem Patient*innen und Betreuer*innen ständig in Bewegung sind und mittels der verschiedenen Angebote eine für sie passende Lösung finden können.

Die Adamant ist ein schwimmendes Holzgebäude mit einer Fläche von 650 qm und großen Fenstern, die sich zur Seine hin öffnen. Für den Entwurf arbeiteten die Architekten eng mit den Betreuer*innen und den Patient*innen der Einrichtung zusammen. Im Juli 2010 wurde sie eröffnet.

Da die öffentliche psychiatrische Versorgung in Frankreich in Sektoren unterteilt ist, ist die Adamant, wie auch die anderen Aufnahmezentren der Pariser Zentralgruppe, für Patient*innen aus den ersten vier Arrondissements der Hauptstadt vorgesehen.

Manche Patient*innen kommen jeden Tag, andere nur ab und zu, in regelmäßigen oder unregelmäßigen Abständen. Sie kommen aus allen Altersgruppen und aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten. Der Tag beginnt mit einem Frühstück für alle Anwesenden. Am Montag findet ein wöchentliches Treffen statt, bei dem Betreuer*innen und Patient*innen zusammenkommen. Jede*r kann Punkte auf die Tagesordnung setzen, die er oder sie besprochen haben möchte, Neuigkeiten werden ausgetauscht, Projekte geplant: ein Theaterbesuch, der bevorstehende Besuch eines Gastes, ein Waldspaziergang, ein Konzert, eine Ausstellung…

Das Betreuungsteam besteht aus Krankenpfleger*innen, Psycholog*innen, Ergotherapeut*innen, einem Psychiater, einem Sekretariat, zwei Krankenhausmitarbeiter*innen und verschiedenen externen Mitarbeiter*innen mit unterschiedlichem Hintergrund. Die Aufgaben des täglichen Lebens werden kontinuierlich begleitet. Alle, sowohl die Patient*innen als auch die Betreuer*innen, sind eingeladen, daran mitzuhelfen, es „gemeinsam zu schaffen“.

Die therapeutische Funktion der Einrichtung betrifft die Gruppe als Ganzes. Jede*r kann sich einbringen, unabhängig von Status, Ausbildung, Platz in der Hierarchie, Persönlichkeit oder Lebensstil. Es wird hier niemanden vor den Kopf stoßen, wenn eine Patientin der Person, die an diesem Tag die Bar leitet – sei es eine Betreuerin, eine Krankenschwester, ein „einfacher“ Praktikant oder ein anderer Patient -, wichtige Dinge anvertraut und dem Psychiater bei der Konsultation am nächsten Tag nicht viel sagt, denn das Team wird einen Weg finden, die verstreuten Informationen miteinander zu verknüpfen.

Es gibt zahlreiche Workshops: Nähen, Musik, Lesen, die Herausgabe einer Zeitung, einen Filmclub, Schreiben, Zeichnen und Malen, Radio, Entspannung, Lederarbeiten, Marmeladenherstellung, kulturelle Ausflüge… Aber die Patient*innen können auch einfach nur kommen, um dort einen Moment zu verbringen, einen Kaffee zu trinken, sich willkommen und unterstützt zu fühlen und sich von der Atmosphäre des Ortes einfangen zu lassen. Die angebotenen Workshops erfüllen keinen Selbstzweck, sie sind vielmehr eine Einladung, sich nicht zu Hause einzuschließen, sondern sich wieder mit der Welt zu verbinden und die Beziehung zu ihr neu zu gestalten.

Das alles hätte ich gerne aus dem Film und nicht aus dem Presseheft erfahren.

Auf der Adamant (Sur l’Adamant, Frankreich/Japan 2022)

Regie: Nicolas Philibert, Linda De Zitter (Mitwirkung)

Drehbuch: Nicolas Philibert

Länge: 109 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Französische Homepage zum Film

Moviepilot über „Auf der Adamant“

AlloCiné über „Auf der Adamant“

Metacritic über „Auf der Adamant“

Rotten Tomatoes über „Auf der Adamant“

Wikipedia über „Auf der Adamant“ (deutsch, englisch, französisch)

Berlinale über „Auf der Adamant“