Neu im Kino/Filmkritik: Über John Woos Weihnachtsfilm „Silent Night – Stumme Rache“

Dezember 15, 2023

Untätig war John Woo die letzten Jahre nicht, aber seit zwanzig Jahren, seit dem Science-Fiction-Film „Paycheck – Die Abrechnung“, lief keiner seiner Filme mehr regulär in unseren Kinos. Insofern ist „Silent Night – Stumme Rache“ eine Rückkehr auf die große Leinwand, die zeigt, warum wir John Woo vor über zwanzig Jahren zwischen Heroic-Bloodshed-Epen und Hollywood-Actionfilmen (wie „Face/Off“) so liebten. Das war alles so übertrieben wie grandios. An diese Filme knüpft John Woo mit seinem neuen Film an, ohne auch nur im Ansatz die Qualität seiner besten Filme zu erreichen.

Es geht um Brian Godlock (Joel Kinnaman). Bei einer Schießerei zwischen verfeindeten Gangsterbanden wird sein kleiner Sohn am Heiligabend von einer herumirrenden Kugel getötet. Brian wird schwer verletzt und verliert seine Stimme. Er schwört Rache. Exakt ein Jahr nach dem Tod seines Sohnes will er die Verbrecher ermorden.

Die Rachestory ist nur die Klammer für die Action und ein formales Experiment. Denn „Silent Night – Stumme Rache“ ist ein Stummfilm. Und John Woo hält sich an diese selbstgewählte Beschränkung, die ihn zwingt, alles über die Bilder, Gesten und Mimik zu erzählen. Eben diese Beschränkung führt auch zu einer sehr simplen Geschichte, die primär dazu dient, die Actionszenen, die sich auf das letzte Drittel des Film konzentrieren, miteinander zu verbinden.

Diese fallen eher pflchtschuldig und humorlos aus. So wie Brian stoisch seinen Racheplan verfolgt und schließlich am Heiligabend ausführt, führt John Woo hier die Action aus. Schnell und schnörkellos werden die austauschbaren Bösewichter erledigt. Nur bei dem ersten Bösewicht dauert es länger. Nach seinem Training schnappt Brian sich einen der Bösewichter und verschleppt ihn in seine Reihenhauswohnung. Dort soll er auf zwei Blatt Papier alles über die Verbrecherorganisation, zu der er gehört, aufschreiben. Der Gangster denkt nicht daran, die Zettel auszufüllen. Er geht zum Angriff über. Im anschließenden Kampf wird Brians halbes Haus verwüstet – und er muss erkennen, dass ein realer Kampf sich von YouTube-Videos und einem allein ausgeführten Training unterscheidet.

Die erste große Actionszene ist am Anfang des Films. Ohne irgendeine Erklärung wirft John Woo uns direkt in die Geschichte. Langsam können wir uns zusammenreimen, warum ein Mann in einem geschmacklosen Weihnachtspullover durch die sonnendurchfluteten Straßen einer größeren Stadt hetzt, einen roten Luftballon und wild um sich schießende Gangster verfolgt.

Die dritte große und finale Actionszene ist dann im Hauptquartier des Verbrecherbosses. Brian stürmt in das Haus und legt auf seinem Weg zu Playa (Harold Torres) einen seiner Fußsoldaten nach dem nächsten um. Dieser oft kopierte Kampf in einem Treppenhaus weckt Erinnerungen an Gareth Evans‘ „The Raid“.

Und damit kommen wir zum Problem der Actionszenen. Sie sind episch und auch gut inszeniert, aber früher war John Woo ein bahnbrechender Vorreiter. Heute ist es anders. In den „John Wick“-Filmen ist die handgemachte Action einfach besser. Und sie sieht besser aus. Das liegt natürlich auch daran, dass hier die Zentrale des Bösewichts in einer heruntergekommenen Fabrik ist, in der die Beleuchtung bestenfalls funktional ist. Und John Woo hatte nur ein eingeschränktes Budget. Trotzdem ändert das alles nichts daran, dass andere Regisseure inzwischen packendere Actionszenen inszenieren. Das macht den Actionfilm zu einer ziemlich drögen Angelegenheit.

Dennoch ist Woos Weihnachtsfilm viel besser als seine oft grotesk misslungenen TV-Arbeiten. Die hatten ein zu niedriges Budget für gute Actionszenen und mussten sich in jeder Beziehung den TV-Konventionen beugen. Gleichzeitig ist sein neuester Actionfilm auch viel schlechter als seine Klassiker. „Silent Night – Stumme Rache“ ist auch keines dieser Alterswerke, in denen ältere Regisseure noch einmal ihr Werk, ihre Themen und ihren Stil Revue passieren lassen. Dafür fehlt zu viel davon. „Silent Night – Stumme Rache“ ist ein 08/15-Thriller mit bestenfalls durchwachsener Action (vor allem im Vergleich zu Woos früheren Actionszenen und, aktuell, den „John Wick“-Filmen) und einer Story, die nur wegen des Stummfilm-Kunstkniffs akzeptabel ist.

Trotz all dieser Kritik ist der Thriller eine willkommene Rückkehr. Sie erinnert an John Woos Meisterwerke und weckt die Lust, sie sich wieder anzusehen. Die Gelegenheit dafür ist günstig. In den kommenden Monaten erscheinen sie, wenn die Ankündigungen stimmen, erstmals in adäquaten Blu-ray-Veröffentlichungen. Unterschiede gibt es beim Bonusmaterial und den auf der Blu-ray enthaltenen Zahl der Fassungen. Aber immer ist die bislang teils schwer, teils überhaupt nicht, teils bestenfalls halblegal erhältliche Uncut-Fassung enthalten.

Gerade ist „The Killer“ erschienen. Für den 23. Februar ist „Hard-Boiled“, für den 28. März „Harte Ziele“, sein Hollywood-Debüt, und für den 31. Mai ist „Bullet in the Head“ angekündigt. Das ist für John-Woo-Fans, alte und neue, das echte Weihnachtsgeschenk. Der kleine dreckige Action-Stummfilm „Silent Night – Stumme Rache“ ist die Beigabe.

Silent Night – Stumme Rache (Silent Night, USA 2023)

Regie: John Woo

Drehbuch: Robert Archer Lynn

mit Joel Kinnaman, Scott Mescudi, Harold Torres, Catalina Sandino Moreno

Länge: 104 Minuten

FSK: ab 18 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Silent Night“

Metacritic über „Silent Night“

Rotten Tomatoes über „Silent Night“

Wikipedia über „Silent Night“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Ti Wests „X“ ist sein Blutgericht in Texas

Mai 19, 2022

https://www.youtube.com/watch?v=4jTO_JL7RSA

Sie sind nicht die ersten, die auf die Idee gekommen sind. Schließlich begann in den USA die Porno-Hysterie 1972 mit dem Film „Deep Throat“. Der Porno hatte so etwas wie eine Handlung. Vor den Kinos, in denen er gezeigt wurde, bildeten sich lange Schlangen. Bekannte Persönlichkeiten sahen sich das Werk an und sprachen danach darüber.

1979 war diese Hysterie vorbei. Aber sicher konnte man mit einem Porno noch etwas Geld machen. Vor allem wenn der Film ohne ein Budget auf einer abgelegenen Farm in Texas gedreht wird. Das ist jedenfalls die geniale Idee von Barbesitzer Wayne Gilroy, der hier seinen ersten Film produzieren will.

Das einzige was Wayne benötigt, um seine Idee umzusetzen, sind einige junge, knackige Schauspieler und ein ebenso junger, ambitionierter Regisseur, der den Film als sein Ticket nach Hollywood sieht. Dafür darf er gleichzeitig als Kameramann und Toningenieur arbeiten.

Schnell findet Wayne diese Menschen und den richtigen Drehort. Die Regie übernimmt RJ Nichols. Er ist ein Filmstudent, der natürlich einen künstlerisch wertvollen pornographischen Film drehen möchte. Sein Vorbild ist Jean-Luc Godard. Das mutet etwas seltsam an, weil Godards wichtigste Filme in den Sechzigern entstanden. 1979 hatte er schon seit über zehn Jahren keine Filme fürs Kino mehr gedreht. Stattdessen experimentierte er, abseits der internationalen Öffentlichkeit, mit der damals neuen Videotechnik. Aber in Texas gehen die Uhren halt langsamer.

Die weiblichen Rollen in dem geplanten Epos „The Farmer’s Daughter“ werden von den Stripperinnen Maxine Minx und Bobby-Lynne Parker, die männliche Rolle von dem Vietnamveteran Jackson Hole übernommen. Dass er ein Schwarzer ist, der, wie es dem Klischee entspricht, offensiv seine sexuelle Potenz präsentiert, stört hier niemand. Es ist ja auch ein Teil des geplanten Films.

Fünfte im Bund ist Lorraine Day, die Freundin von RJ. Sie soll ihm bei der Arbeit helfen.

Diese Gruppe will innerhalb weniger Stunden im Gästehaus einer abgelegenen Farm ihr künftiges Meisterwerk drehen. Dass ihr Vermieter Howard etwas seltsam ist und an Gedächtnisproblemen leidet, stört sie nicht. Letzendlich sollen er und seine Frau Pearl, die sie aus einem Fenster im ersten Stock des Farmhauses beobachtet, sie nur in Ruhe ihren Film drehen lassen.

Dass der Dreh sich für die fünf Städter zu einem Horrortrip entwickeln wird, wissen Filmfans in dem Moment schon lange. Denn Ti West spart in seinem neuen Film „X“ (was das angestrebte Rating von Waynes Films ist) nicht mit Anspielungen auf Tobe Hoopers Horrorfilmklassiker „The Texas Chainsaw Massacre“ von 1974.

Für den Genrefan entwickelt sich so schnell ein ziemlich intelligentes und beim Erraten der Vorbilder amüsantes Spiel zwischen verschiedenen Metaebenen, Vorbildern aus dem pornographischen (weniger) und dem Horrorfilm (mehr) und „X“. Das gilt auch für die Reihenfolge der Morde und die Art ihres Ablebens.

Bis zum ersten Mord vergeht allerdings über eine Stunde. Auch danach, immerhin gibt es auf der Farm nur eine überschaubare Zahl an potentiellen Opfern, lässt Ti West sich Zeit. Für den Gore-Fan sind die in der Nacht stattfindenden Morde ziemlich enttäusend. Sie geschehen schnell und es ist immer so dunkel, dass sie mehr erahnt als gesehen werden.

Auch ist die Horrorstimmung niemals auch nur im Ansatz so beängstigend wie in „The Texas Chainsaw Massacre“.

So ist „X“ für den Fan des Siebziger-Jahre-Horrorfilms ein schönes, liebevoll ausgestattetes, stilbewusstes Erinnerungsstück, das auch etliche Anspielungen auf den pornographischen Film enthält.

X (X, USA 2022)

Regie: Ti West

Drehbuch: Ti West

mit Mia Goth, Jenna Ortega, Brittany Snow, Scott Mescudi, Martin Henderson, Owen Campbell, Stephen Ure, James Gaylyn, Matthew Saville

Länge: 106 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „X“

Metacritic über „X“

Rotten Tomatoes über „X“

Wikipedia über „X“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Ti Wests „The Innkeepers“ (USA 2011)


Neu im Kino/Filmkritik: Protzkarren mit „Need for Speed“

März 21, 2014

 

Need for Speed“ basiert auf einem Videospiel und wie bei vielen Spieleverfilmungen fragte ich mich, ob Spieleverfilmungen wirklich so komplett logikentkernt sein müssen. Allerdings erreicht „Need for Speed“ hier ganz neue Qualitäten, die dazu führen, dass ich mich die ganze Zeit fragte, warum ich auch nur den Funken eines Gefühls in diese Pappkameraden investieren sollte, die sich durchgängig vollkommen idiotisch verhalten.

Also, es geht um Tobey Marshall, einen begnadeten, herzensguten Automechaniker, der in illegalen Straßenrennen Geld verdient, und der mit dem stinkreichen und daher arroganten Ex-NASCAR-Rennfahrer Dino Brewster verfeindet ist. Um seinen Schuldenberg abzubezahlen, motzt er für Dino einen Mustang Shelby auf. Das drei Millionen Dollar teure Auto wird nach England verkauft und bei einem kleinen Rennen, tagsüber auf der gut befahreren Autobahn, zwischen Dino, Tobey und Tobeys Kumpel Little Pete bringt Dino Little Pete um und haut ab. Tobey wandert in den Knast – und wir fragen uns, ob es im Staat New York keine Forensiker mehr gibt, die einen Blick auf fehlende Bremsspuren, demolierte Autos und Videoaufnahmen werfen und Zeugen befragen. Auch alle Anwälte waren nach dem Unfall anscheinend anderweitig beschäftigt.

Jedenfalls wandert Tobey als Mörder von Little Pete in den Knast. Zwei Jahre später wird er entlassen, will sich rächen, kriegt als Leihwagen den superteuren Mustang Shelby (aus Great Britain mit blonder Aufpasserin eingeflogen) und macht sich, natürlich im Auto, auf den Weg zum nächsten illegalen Autorennen, das irgendwo in der Nähe von San Francisco stattfindet. Denn die optimale Vorbereitung für ein Rennen ist nun einmal eine 48-stündige Überlandfahrt von New York nach Kalifornien.

Need for Speed“ klont weitgehend humorfrei „Auf dem Highway ist die Hölle los“ ohne das Autorennen von Küste zu Küste und ohne die Stars, mit der „Fast & Furious“-Serie; wobei nach „Need for Speed“ sogar der grottige „The Fast and the Furious: Tokyo Drift“ wie ein filmisches Meisterwerk wirkt. Immerhin sind Tobeys brave Kumpels ähnlich multiethnisch wie Doms wesentlich unterhaltsamere Gangsterposse.

Bis auf die erfrischende Mißachtung von Geld, wenn immer wieder innerhalb von Sekunden Autos, die mehrere Millionen wert sind, geschrottet oder auch mal mit einem Hubschrauber abtransportiert werden und den handgemachten Actionszenen, inclusive einiger spektakulärer Bilder von Stunts und Crashs, gibt es nichts, was die Klischeeparade „Need for Speed“ auch nur irgendwie sehenswert macht.

Ach ja, im Gegensatz zu „Alarm für Cobra 11“ wird hier sogar im 3D-Modus geschrottet.

Need for Speed - Plakat

Need for Speed (Need for Speed, USA 2013)

Regie: Scott Waugh

Drehbuch: George Gatins (nach einer Idee von George Gatins und John Gatins)

mit Aaron Paul, Dominic Cooper, Imogen Pots, Ramon Rodriguez, Michael Keaton, Rami Malek, Scott Mescudi, Dakota Johnson, Harrison Gilbertson

Länge: 131 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Amerikanische Homeapge zum Film

Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „Need for Speed“

Moviepilot über „Need for Speed“

Metacritic über „Need for Speed“

Rotten Tomatoes über „Need for Speed“

Wikipedia über „Need for Speed“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Scott Waughs „Act of Valor“ (Act of Valor, USA 2012)