Neu im Stream/Filmkritik: „Das Phantom – Auf der Jagd nach Norman Franz“, Mörder, Räuber und Ehemann

Dezember 23, 2024

Am 28. Juli 1999 bricht Norman Franz, kurz vor seiner Auslieferung aus Portugal nach Deutschland, aus der Justizvollzugsanstalt Lissabon aus. Seitdem ist der vom BKA wegen fünffachem Mord gesuchte Deutsche auf der Flucht.

In ihrem spielfilmlangen Dokumentarfilm „Das Phantom – Auf der Jagd nach Norman Franz“ zeichnet Annika Blendl das verbrecherische Leben von Franz und seine Gefängnisausbrüche nach. Bei ihren Recherchen entdeckte sie auch neue Spuren und einen Brief von Franz. Sie vermutet, dass der Flüchtling sich jetzt im Süden Afrikas aufhält. Mehr sagt sie im Film, um Ermittlungen nicht zu gefährden, nicht. Ein früherer Bekannter hält es, so sagt er im Film, nicht für ausgeschlossen, dass Franz wieder im Ruhrgebiet lebt.

Dort beginnt in den frühen neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Dortmunder Norden seine Karriere als Verbrecher. Er gehört zu einer Bande, die Banken überfällt, Zigaretten schmuggelt, mit Waffen handelt und Kontakte zu Zuhältern hat. Sandra C. verliebt sich in ihn und heiratet ihn später. Für die Doku wurde sie ausführlich über mehrere Tage interviewt. Sie hat mit Franz einen Sohn, ist immer noch in ihn verliebt und will seine Taten nicht glauben.

Blendl hat sich auch mit Polizisten, Staatsanwälten, Journalisten und Verbrechern, die mit Franz mehr oder weniger engen Kontakt hatten, unterhalten. Mit den Opfern hat sie nicht gesprochen. Sowieso bleiben seine Taten eher diffus in ihrer Mischung aus Erzählungen, nachgestellten Szenen und Tatortfotos.

Der Rückblick auf Franz‘ frühen Jahre als skrupelloser Schwerverbrecher ist trotzdem der interessanteste und zu kurz geratene Teil des chronologisch erzählten Films. Die sich nach einer Verhaftung und einem Ausbruch aus der Justizvollzugsanstalt Hagen anschließende Flucht mit Sandra ist dann eine „Bonnie & Clyde“-Fluchtgeschichte. Er begeht weitere Morde und erbeutet dabei in Weimar und Halle genug Geld für ein auskömmliches Leben in Portugal in Albufeira. Dort werden er und seine Frau ama 24. Oktober 1998 verhaftet. Einige Monate später gelingt ihm die erneute Flucht aus einem Gefängnis.

Danach taucht Franz unter. Seitdem gibt es nur noch, teils wilde, Vermutungen über sein weiteres Leben. Denn dass er tot ist, glauben die im Film Interviewten nicht.

Das Phantom – Auf der Jagd nach Norman Franz“ ist ein chronologisch erzählter, okayer Dokumentarfilm, der als Verbrecher- und Sittengemälde einer Verbrecherbande im Ruhrgebiet in den neunziger Jahren eine spannende Geschichtsstunde hätte werden können. So ist es nur die den Täter verherrlichende Geschichte eines skrupellosen Verbrechers, der inzwischen fast sein halbes Leben auf der Flucht verbrachte.

Das Phantom – Auf der Jagd nach Norman Franz (Deutschland 2024)

Regie: Annika Blendl

Drehbuch: Annika Blendl

Länge: 98 Minuten

Verfügbarkeit: auf Sky und dem Streamingdienst WOW

Hinweise

Sky über die Doku

Moviepilot über „Das Phantom – Auf der Jagd nach Norman Franz“

Wikipedia über Norman Franz (deutsch, englisch)

BKA über Norman Franz

WDR Lokalzeit über den Fall Norman Franz (20. Dezember 2024)

 


„Cops und Killer“ – die Kriminalreportagen von Michael Connelly, wieder erhältlich

September 9, 2024

2007 erschien im Heyne-Verlag „L. A. Crime Report“, eine Sammlung von Reportagen, die Michael Connelly schrieb, bevor er mit seinen Harry-Bosch-Polizeiromanen weltweit Millionen Leser begeisterte. Sein mit dem Edgar ausgezeichnetes Romandebüt „Schwarzes Echo“ (The Black Echo) erschien 1992.

Jetzt veröffentlichte der Kampa Verlag unter dem Titel „Cops und Killer“ den Sammelband wieder – und ich hole meine alte Besprechung aus den Tiefen des Internets, entstaube sie (Hust!) und poste sie in leicht aktualisierter Form wieder:

Das neueste Buch “Cops und Killer“ von Michael Connelly ist eigentlich ein vollkommen überflüssiges Buch. Connelly-Fans wissen, dass er vor seiner Schriftstellerkarriere Polizeireporter für den „South Florida Sun-Sentinel“ und die „Los Angeles Times“ war. Diese Artikel verstauben, wie hunderttausende weitere Zeitungsartikel, in den Archiven der Zeitungen und Bibliotheken, wenn es nicht einen Grund gäbe, sie wieder auszugraben. Der Grund bei Michael Connelly ist ganz einfach. Er ist heute einer der großen zeitgenössischen Krimiautoren. Mit seinen Einzelwerken und, vor allem, der Harry Bosch-Reihe eroberte er weltweit die Herzen der Krimifans. Bei seinen Romanen fällt immer wieder auf, wie genau sie recherchiert sind und wie präzise die zahlreichen Informationen in der Geschichte präsentiert werden. Das lernte Connelly, wie die im irreführend betitelten „Cops und Killer“ abgedruckten Texte zeigen, als Polizeireporter.

In „Cops und Killer“ sind nämlich etliche Reportagen und Zeitungsartikel abgedruckt, die er zwischen 1984 und 1992 für den „South Florida Sun-Sentinel“ und die „Los Angeles Times“ schrieb. Die Artikel sind unter den Überschriften „Die Cops“, „Die Killer“ und „Die Fälle“ gebündelt. Meistens sind mehrere, miteinander zusammenhängende Artikel über einen Fall zusammengefasst worden. Diese Zeitungsartikel unterscheiden sich dann auch nicht von Zeitungsartikel, die andere Journalisten über teilweise ebenfalls Aufsehen erregende Verbrechen geschrieben haben. Es werden die Fakten, garniert mit einigen Zitaten, präsentiert. Es sind über dreißig bis vierzig Jahre alte Artikel, die damals für den schnellen Gebrauch geschrieben waren und heute – wenn man nicht gerade über diese Zeit recherchiert – vollkommen uninteressant sind.

Neben diesen für den täglichen Gebrauch geschriebenen Artikeln wurden auch einige seiner Reportagen aufgenommen. In ihnen ist am ehesten die Verbindung zwischen dem Polizeireporter, der irgendwann einmal Romane schreiben wollte, und dem heutigen Kriminalromanautor erkennbar. So findet sich in „Der Anruf“ die Stelle, in der Detective George Hurt, während er am Tatort keine Miene verzieht, den Plastiküberzug an seiner Brille mit seinen Zähnen zerbeißt. Für diese Reportage begleitete Michael Connelly eine Woche lang zwei Detectives. Ebenfalls von bleibendem Interesse sind die Reportagen über die Arbeit der Polizei gegen die sich in Florida entspannenden Mafiosi („Das Open Territory“), die Zusammenarbeit der Foreign Prosecution Unit von Los Angeles mit der ausländischen Justiz, um flüchtige Straftäter vor Gericht zu bringen („Grenzüberschreitungen“), die Reportage über eine Gruppe von unfähigen Mietkillern („Wo Gangster um die Ecke knallen“) und die Fallstudien „Böse, bis er stirbt“ über einen mutmaßlichen Mörder und „Ein Leben auf der Überholspur“ über einen Serieneinbrecher.

In den Reportagen und Artikeln, in denen Michael Connelly einzelne Fälle begleitete, fällt immer wieder auf, wie einige Fälle und darin verwickelte Personen in seine Romane eingeflossen sind. Denn, so Raymond-Chandler-Fan Connelly in dem lesenswerten Vorwort: „Meine Erlebnisse mit Cops und Mördern und meine Tage als Polizeireporter waren für mich als Romanautor von unschätzbarem Wert. Den Romanautor gäbe es nicht ohne den Polizeireporter. Ich könnte nicht über meinen fiktiven Detective Harry Bosch schreiben, hätte ich nicht zuerst die realen Detectives erlebt. Ich könnte meine Mörder nicht erfinden, hätte ich vorher nicht mit ein paar richtigen gesprochen.“

Deshalb ist „Cops und Killer“ kein überflüssiges Buch. Michael Connelly-Fans, die an allen von Connelly geschriebenen Texten und vor allem an den ersten Einflüssen für seine Romane interessiert sind, haben es bereits gekauft. Aber auch für True Crime-Fans und für Journalisten ist „Cops und Killer“ ein sehr lohnenswertes Buch. Denn, so Michael Carlson, in seinem ebenfalls lesenwertem Nachwort, Michael Connelly „ist Reporter im besten Sinn des Wortes, jemand, der es versteht, Informationen zu sammeln und die hinter den Fakten versteckte Geschichte zu erkennen, jemand, der es versteht, die Eindrücke der unterschiedlichen Menschen zu sortieren und zu erkennen, wie sie diesen Fakten zugrunde liegen, und vor allem jemand, der es versteht, das alles so zu Papier zu bringen, dass auch seine Leserschaft dazu in der Lage ist.“

Die deutsche Ausgabe wurde um einen kurzen Text von Jochen Stremmel über Connelly ergänzt.

 

Für die aktuelle Ausgabe wurde laut Impressum die Übersetzung überarbeitet. Beim flüchtigen Überprüfen fielen mir nur Kleinigkeiten.

Es gibt zwei weitere kleinere Änderungen. In der Originalausgabe werden die Originaltitel der Reportagen, Erscheinungsdatum und -ort am Ende des Buches gesammelt aufgelistet. In der Neuausgabe werden die Originaltitel nicht mehr genannt. Das Erscheinungsdatum und der -ort stehen bei den Reportagen.

Im Gegensatz zur Originalausgabe wurde auf ein Werkverzeichnis verzichtet. Weil diese Angaben leicht im Internet, u. a. bei Wikipedia, zu finden sind, ist das kein nennenswerter Verlust.

Ein Verlust wäre es allerdings, das Buch nicht zu lesen.

Michael Connelly: Cops und Killer – Wahre Fälle aus L. A.

(übersetzt von Sepp Leeb)

Kampa, 2024

336 Seiten

18,90 Euro

Deutsche Erstausgabe

L. A. Crime Report

Heyne, 2007

Originalausgabe

Crime Beat: Selected Journalism 1984 – 1992

Steven C. Vasic Publications, 2004

Neuauflage (bei einem größeren Verlag; diese Ausgabe ist populärer)

Crime Beat: A decade of covering cops and killers

Little, Brown and Company, 2006

Britische Ausgabe unter dem Titel “Crime Beat – True Stories of Cops and Killers” bei Orion, 2006

Hinweise

Homepage von Michael Connelly

Kampa über Michael Connelly

Wikipedia über Michael Connelly (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Michael Connellys “L. A. Crime Report” (Crime Beat, 2004)

Meine Besprechung von Michael Connellys „The Lincoln Lawyer“ (2005, deutscher Titel: Der Mandant)

Meine Besprechung der Filmausgabe von Michael Connellys „Der Mandant“ (The Lincoln Lawyer, 2005)

Meine Besprechung von Michael Connellys „Vergessene Stimmen“ (The Closers, 2005)

Meine Besprechung von Michael Connellys “Echo Park” (Echo Park, 2006)

Meine Besprechung von Michael Connellys “Kalter Tod” (The Overlook, 2007)

Michael Connelly in der Kriminalakte

Meine Besprechung von Brad Furmans Michael-Connelly-Verfilmung „Der Mandant“ (The Lincoln Lawyer, USA 2011)

 


„stern Crime – Wahre Verbrechen“ – ein neues Magazin

Juni 20, 2015

Crime - Cover

Wer sich schon einmal in einem Bahnhofskiosk durch die dort ausliegenden Zeitschriften wühlte, weiß, dass es unglaubliche Special-Interest-Magazine gibt. Auch zu Themen, bei denen die Käuferzahl sehr überschaubar sein wird. Es gibt auch einige neuere Magazine, die explizit die Kunst des längeren Textes, sei es als Reportage oder als Interview, pflegen, und die ich mir fast nie kaufe, weil neben der einen Reportage, die mich interessiert, auch viele sind, die mich nicht so sehr interessieren. Und, was ich auch bei meinen Recherchen für einen Sammelband über Kriminalreportagen bemerkte, in jedem Magazin gibt es immer wieder gelungene Kriminalreportagen. Aber ein Magazin, das nur Kriminalreportagen enthält, gab es bis jetzt aus für mich unverständlichen Gründen nicht.
Mit „stern Crime – Wahre Verbrechen“, technisch gesehen eine Ausgründung des „Stern“, das wenigstens früher für seine Reportagen bekannt war (zuletzt waren auch die langen Geschichten für meinen Geschmack zu kurz), gibt es jetzt ein Magazin, das nur über Verbrechen berichtet, und schon der erste Eindruck ist erfreulich. Denn die Reportagen sind angenehm lang. Nicht dass Länge alles wäre, aber um in die Tiefe zu gehen und einen Fall in seiner ganzen Komplexität darzustellen, braucht es einige Zeit.
Das erste Heft enthält auf gut 140 Seiten sieben lange Reportagen, zwei Interviews (eines mit einem Kommissar über Verhöre, eines mit Friedrich Ani über seine Kriminalromane, beide lesenswert), eine Bildreportage (über ein Dorf, das sich an einigen Verbrechern rächt) und verschiedene kürzere Texte. Allein schon dieser erste Blick zeigt, dass ein gut zehnseitiger oder längerer Text normal ist.
In den fast ausschließlich von deutschsprachigen Autoren geschriebenen Reportagen geht es um den Highway 16 in Kanada, an dem seit Jahren Frauen verschwinden und manchmal tot aufgefunden werden; um einen Mord an einer Sexsklavin, durchgeführt von einem Architekten, der Irland erschütterte (eine spannende Lektüre); um den Mordversuch von Kelli Stapleton an ihrer autistischen und gewalttätigen Tochter in Michigan, USA (Hanna Rosins bedrückende Reportage erschien im Oktober 2014 im „New York Magazin“ als Titelgeschichte und sie wurde von Kritikern als eine der besten Kriminalgeschichten des Jahres gelobt); um die nach 17 Jahren immer noch erfolglose Suche von Kriminalhauptkommissar Uwe Fey nach dem Mörder des 13-jährigen Tristan in Frankfurt am Main (eine weitere bedrückende Reportage); um einen Bankräuber, der den Überfall in Uhingen aus so edlen Motiven beging, dass sogar der Richter Mitleid mit ihm hatte; und um den heute 21-jährigen Francisco Nicolás, der die spanische Oberschicht narrte (eine vergnügliche Köpenickiade).
Nach der Lektüre des angenehm textlastigen und im Moment noch ziemlich werbefreien Heftes (es gibt also einiges zu Lesen) kann ich sagen, dass es ein vielversprechender Anfang ist. Es ist auch ein Anfang, der noch viel Luft nach oben lässt. Denn die Reportagen sind, im Vergleich zu US-amerikanischen Reportagen, vor allem wenn sie in der Tradition des New Journalism stehen, oft etwas konventionell und brav geraten. Da kann ruhig pointierter und auch literarischer geschrieben werden. Vielleicht sollte „Crime“ in seine Redaktionsstatuten als immerwährenden Antrieb und Selbstverpflichtung den Passus aufnehmen: „Wir schreiben die besten deutschsprachigen Reportagen. Wir sind die Zukunft der Reportage.“
Und es ist, wie bei anderen neuen Magazinen, ein Anfang, der sich noch vieles offen hält. Im ersten Heft überwiegen die Reportagen über Mordfälle (inclusive einem Mordversuch). Künftig sollten dann auch andere Verbrechen und auch Hintergründe zu den gesellschaftlichen Ursachen und zu wissenschaftlichen Erkenntnissen stärker beleuchtet werden. Solange es interessant geschrieben ist, kann es ruhig auch etwas länger werden. Bei den Bildern sollte nach eindrucksvolleren Bildern gesucht werden. Im ersten Heft sind sie noch etwas austauschbar.
Also: weiter so mit den langen Reporagen und ruhig etwas experimentierfreudiger.
„stern Crime – Wahre Verbrechen“ soll sechsmal im Jahr erscheinen. Die nächsten Ausgaben erscheinen am 8. August und 10. Oktober.

stern Crime – Wahre Verbrechen Nr. 1
Gruner + Jahr, 2015
140 Seiten
4,80 Euro

Hinweis
Homepage des Magazins