TV-Premiere. Burhan Qurbani verlegt Alexander Döblins Roman in seiner dreistündigen, gut aussehenden, ziemlich braven, teils misslungenen, teils unglaubwürdigen Verfilmung in die Gegenwart. Aus dem Ex-Häftling Franz Biberkopf wird bei ihm der aus Afrika kommende Flüchtling Francis.
Das Drama erhielt fünf Lolas (Bester Spielfilm, Beste männliche Nebenrolle, Beste Kamera, Beste Musik, Bestes Szenenbild) und, in Deutschland, überschwängliche Kritiken.
„Crimes of the Future“ heißt einer von David Cronenbergs ersten und sein letzter Film. Dabei ist sein neuester Film kein Remake und auch keine Forterzählung von seinem früheren Film, einem 1970 entstandenem Low-Budget-Film, der in einer Welt spielt, in der es keine Frauen mehr gibt, sondern ein vollkommen eigenständiges Werk. Cronenberg gefällt einfach der Titel.
Den Filmtitel entdeckte er in dem dänischen Film „Sult“ (Hunger, Dänemark 1966, Regie: Henning Carlsen). Dort schreibt auf einer Brücke ein Dichter den Titel „Crimes of the Future“ in sein Notizbuch. Cronenberg dachte sich, dass er das Gedicht gerne lesen würde. Als er dann einen Low-Budget-Film drehte, der nach zwei Kurzfilmen sein zweiter längerer Film war, dachte er sich, dass „Crimes of the Future“ ein neugierig machender Filmtitel sei. Jedenfalls er würde sich gerne einen Film mit diesem Titel ansehen.
Über fünfzig Jahre später hat er wieder einen Film mit dem Titel gedreht. Er sei, so Cronenberg, eine Meditation über die menschliche Evolution. Es gehe um Verbrechen, die der menschliche Körper gegen sich selbst begehe. Es gehe um Fragen, wie ob der menschliche Körper sich so weiterentwickeln könne, dass er Probleme löse, die die Menschheit geschaffen habe.
In der von Cronenberg nur schemenhaft geschilderten Zukunft haben immer mehr Menschen in ihrem Körper mutierte Organe mit bislang unbekannten Fähigkeiten. Einige davon sind gefährlich. Andere nicht. Einige scheinen sogar vollkommen nutzlos zu sein.
Saul Tenser (Viggo Mortensen) ist ein Avantgarde-Performance-Künstler, in dessen Körper es ständig neue mutierte und neue Organe gibt. Bei seinen öffentlichten Auftritten lässt der Subkultur-Star sie sich von seiner Partnerin Caprice (Léa Seydoux) herausoperieren.
Gleichzeitig gibt es Menschen, die ihren Körper mit transplantierten Organen verändern.
Weil diese Veränderungen im menschlichen Körper nicht von allen begrüßt werden, gibt es das National Organ Registry. Diese Behörde erfasst alle Organe. Vertreten wird sie von Wipper (Don McKellar) und Timlin (Kristen Stewart), die sich etwas seltsam verhalten. Timlin ist von Tenser fasziniert.
Und eine Untergrundorganisation, deren Motive niemals richtig klar werden, verfolgt Tenser.
So weit, so unklar. Denn David Cronenberg geht es in seinem neuesten Film nicht um eine nachvollziehbare Geschichte, sondern um eine zugleich beunruhigende und beruhigende Atmosphäre. Die Dystopie ist eine Aneinanderreihung von teils traumhaften, teils beunruhigenden, teils verstörenden, oft alptraumhaften Szenen, in denen Körper und Körperteile eine seltsame Symbiose eingehen und Stühle wie lebendige Skelette aussehen. „Crimes of the Future“ ist purer Body-Horror, den er mit den Begrenzungen inszeniert, mit denen er in den siebziger und achtziger Jahren seine Filme inszenierte. Letztendlich wirkt der Film, als sei er, bis auf wenige Bilder, in einem alten Lagerhaus entstanden. Gedreht wurde der Film in Griechenland, wo es noch diese Lagerhäuser gibt, die wir aus in den Siebzigern in New York gedrehten Low-Budget-Filmen kennen.
Cronenberg erzählt seine mehr erahn- als nacherzählbare Geschichte sehr langsam, in dunklen Bildern, die „Crimes of the Future“ fast zu einem braunschwarzem Film machen und ihm ein Noir-Feeling verleihen. Auch die Ausstattung, wie das Büro der Organregistrierungsbehörde, erinnert öfter an die klassischen Noir-Filme aus den Vierzigern. Die technischen Geräte, die Körper umgeben und in sie eindringen, sind handgefertigte Geräte, die wie die düsteren Entwürfe für einen Science-Fiction-Film aus den siebziger Jahren wirken.
Acht Jahre nach seinem letzten Film „Maps to the Stars“ kehrt Cronenberg zurück zu seinen Anfängen. Dabei ist die Grundlage für „Crimes of the Future“ kein neues Drehbuch, in dem der Regisseur im Rahmen eines Alterswerkes einfach noch einmal seine altbekannten Obsessionen als mehr oder weniger gelungenes Best-of präsentiert, sondern ein über zwanzig Jahre altes Werk. Cronenberg schrieb das Drehbuch 1998/99 im Umfeld von „Crash“ (1996) und „eXistenZ“ (1999). Gerade zu dem Virtual-Reality-Thriller „eXistenZ“ gibt es unübersehbare visuelle Verbindungen. Und damit auch zu „Videodrome“ (1983). Wobei es in „Crimes of the Future“ um Körper und Körper geht.
Aus verschiedenen Gründen zerschlugen sich dann alle Versuche, die Geschichte zu verfilmen. Cronenberg legte das Drehbuch zur Seite, bis sein Produzent Robert Lantos ihn darauf ansprach und meinte, die Geschichte sei heute aktueller und wichtiger als damals.
Das stimmt insofern, dass heute Eingriffe und Veränderungen am eigenen Körper alltäglicher als vor 25 Jahren sind. Das gilt auch für die Umweltverschmutzung und den Anteil von Mikroplastik, den jeder in seinem Körper hat. Cronenberg fragt sich, was das mit unserem Körper macht oder machen könnte.
„Crimes of the Future“ präsentiert, und damit ähnelt er dem 1970er „Crimes of the Future“, beunruhigende, dystopische Bilder ohne eine erkennbare Geschichte. Über die gezeigte Welt und die Botschaft kann kaum gesprochen werden. Zu diffus ist sie. Cronenbergs neuer Film ist wie ein Orakel, das einige tief verstören, andere langweilen und die Fans des Body-Horror-Cronenbergs begeistern wird. Denn dieses Mal zeigt er ausführlich wieder richtigen Body Horror.
Crimes of the Future (Crimes of the Future, Kanada/Frankreich/Griechenland/Großbritannien 2022)
Regie: David Cronenberg
Drehbuch: David Cronenberg
mit Viggo Mortensen, Léa Seydoux, Kristen Stewart, Scott Speedman, Welket Bungue, Don McKellar, Tanaya Beatty, Nadia Litz, Lihi Kornowski, Denise Capezza
Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ ist ein Literaturklassiker. Die Verfilmung von 1931 mit Heinrich George als Franz Biberkopf ist inzwischen ziemlich vergessen, soll aber gut sein. Rainer Werner Fassbinders Fernsehserie ist ein wuchtiger Klassiker. Beide Verfilmungen spielen, wie Döblins Roman, in den Zwanziger Jahren und sie sind Milieustudien des Lumpenproletariats, wie man damals die ganz armen, von der Gesellschaft nicht beachteten Menschen nannte.
Burhan Qurbani verlegte jetzt Döblins Roman in die Gegenwart und machte aus Döblins Franz Biberkopf, der wegen Totschlags vier Jahre im Gefängnis saß, einen aus Afrika kommenden Flüchtling.
Dieser Francis (Welket Bungué), der später Franz genannt wird, kommt bei seiner Flucht aus Guinea-Bissau über das Mittelmeer mit letzter Kraft in Europa an. Am Ufer schwört er, ab jetzt ein guter und anständiger Mensch zu sein.
In Berlin lebt er in einem Flüchtlingsheim und arbeitet auf einer Baustelle als Schwarzarbeiter. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände verliert er diese Arbeit. Er lernt den kleinen Drogenhändler Reinhold (Albrecht Schuch), der ihn ins kriminelle Milieu einführt, und später die Prostituierte Mieze (Jella Haase) kennen. Zwischen Francis und Mieze entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die Reinhold nicht tolerieren will.
Der Film feierte auf der Berlinale seine Premiere, die meisten deutschsprachigen Kritiken sind überschwänglich, bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises erhielt „Berlin Alexanderplatz“ fünf Lolas (Bester Spielfilm, Beste männliche Nebenrolle, Beste Kamera, Beste Musik, Bestes Szenenbild) – und ich frage mich immer noch wieso.
Qurbani erzählt Francis‘ Leidensgeschichte über drei Stunden in einer schlichten, chronologischen Und-dann-Struktur, die nichts von der Experimentierlust der Buchvorlage – einem Klassiker der Moderne – spüren lässt.
Die gewählte Neo-Noir-Optik sieht zwar schick aus, ist aber schon seit Jahrzehnten ein etabliertes Stilmittel. Das im Film gezeigte Berlin (bzw. die Orte Berlin, Stuttgart und Köln, an denen Außenaufnahmen entstanden) und die Innenräume wirken so betont künstlich. In „Berlin Alexanderplatz“ wird nicht das heutige Berlin und auch kein wiedererkennbares Berlin gezeigt. Es ist eine neonbunte Fantasiestadt mit dann doch recht eindimensionalen Figuren. Sie sind mehr Chiffren als ausformulierte Charaktere.
Bei einem Film, der sich „Berlin Alexanderplatz“ nennt, auf einem Romanklassiker, der eine Milieustudie ist, basiert und mit der Wahl seines Protagonisten eindeutig ein Kommentar zur Gegenwart sein will, wirkt das schon etwas befremdlich. Über die Gegenwart und damit das Leben von Flüchtlingen, mit und ohne legalem Aufenthaltsstatus, in Berlin, erfahren wir fast nichts.
Mein größtes Problem bei „Berlin Alexanderplatz“ liegt daher in der Story und in der Diskrepanz zwischen behaupteter und echter Botschaft. In Döblins Roman geht es um einen Ex-Sträfling, der ehrlich bleiben will und von den Umständen auf die Probe gestellt wird: „Der Mann hat vor, anständig zu sein, da stellt ihm das Leben hinterlistig ein Bein.“ (Klappentext der Erstausgabe von „Berlin Alexanderplatz).
In Qurbanis Film soll es auch um diese These, nämlich dass die Gesellschaft den Protagonisten zum Verbrechertum zwingt, gehen. Oder in den Worten des Films: „Anständig wollte Franz sein, doch dem Leben gefiel das nicht.“
Die Geschichte von Francis erzählt in fünf Teilen und einem Epilog das Gegenteil. Denn Francis schlägt mehr oder weniger deutlich alle Angebote für ein ehrliches Leben aus. Er schlägt ehrliche Angebote zur Hilfe aus. Er hält sich nicht an Regeln. Er nimmt freiwillig immer wieder illegale Jobs an. Als Schwarzarbeiter auf dem Bau. Als Drogendealer in der Hasenheide. Niemand zwingt ihn dazu. Es ist immer seine freie Entscheidung. Der Film erzählt, dass Franz anständig sein wollte, doch ihm gefiel das nicht.
Das wird, angemessen bedeutungsschwanger, als „ein Passionsspiel vom Opfer und der Erlösung“ (Qurbani) erzählt.
Um nicht falsch verstanden zu werden: „Berlin Alexanderplatz“ ist kein wirklich schlechter Film, aber es ist ein überbewerteter, mit drei Stunden zu lang geratener Film.
Berlin Alexanderplatz(Deutschland 2020)
Regie: Burhan Qurbani
Drehbuch: Burhan Qurbani, Martin Behnke
LV: Alexander Döblin: Berlin Alexanderplatz, 1929
mit Welket Bungué, Jella Haase, Albrecht Schuch, Joachim Król, Annabelle Mandeng, Nils Verkooijen